Die Gesichtslosen - Fey, S: Gesichtslosen
anzunehmen, im Tierheim auszumisten und den Gärtner zu spielen. Vielleicht ist er zu faul zum Sprechen oder einfach nur stur. Ich kann froh sein, dass er Lieferungen von der hauseigenen Konditorei für uns austrägt.«
»Auch zur Glyptothek?«, fragte Carina. Sie musste sofort ihren Vater verständigen. Nein, dachte sie, die Polizei, einfach nur die Polizei. Hatte er vielleicht Wanda in seiner Gewalt?
»Mehr oder weniger«, sagte Luise. »Ganz zuverlässig ist er nicht. Vorletzten Mittwoch hab ich es übernommen, und da habe ich Rosa auf dem Königsplatz vor der Glyptothek entdeckt. Vielleicht sollte ich ihn nicht so hart beurteilen, schließlich verdanke ich es ihm, dass ich sie wiedergesehen habe. Er hätte seine Mutter vermutlich gar nicht wiedererkannt.«
»Wie heißt er?« Carina behielt ihn im Blick, während sie sich langsam erhob, die Hand schon an der Tastatur ihres Handys.
»Dimitri, wie der aus einem Lieblingsbuch meiner Schwester.«
Alles passte zusammen: das Foto, das den Ring an Maries Hand zeigte, die sein erstes Opfer gewesen war. Eva Bretschneider, der er als ihr »Verlobter« den Ring geschenkt hatte – ihr das Gesicht abzuziehen, war ihm nicht geglückt.
Und das hieß, er versuchte es jetzt bei … nein, sie wollte es nicht einmal denken. Wanda, lebte sie noch?
Ein ganzer Schwung Leute drängte ins Restaurant. »Ach, die Paare des Candle-Light-Dinners.« Luise Salbeck erhob sich.
Carinas Herz raste, ihr war schlecht und in den Ohren sirrte es. Hastig stopfte sie ihre Sachen in die Tasche zurück, sprang auf und zerrte Gandhi zum Ausgang.
Dimitri war nicht mehr zu sehen.
60.
Deggendorf im Oktober
Der Bezirksleiter der Drogeriekette, den Rosa noch nie zu Gesicht bekommen hatte, sprach von Umstrukturierung. Leider habe sie in der Mitarbeiterbewertung schlecht abgeschnitten. Rosa musste lachen. Hörte das nie auf? Anstatt von der Staatssicherheit der DDR , wurde sie jetzt von einem Drogeriebesitzer benotet?
»Es ist ernst«, sagte der Hawaiihemdträger und musterte sie streng. Der war bis zur Südsee gekommen – oder träumte davon – , sie nur nach Niederbayern. »Wir wollen unser Kosmetiksortiment erweitern und müssen Ihnen leider mitteilen … « Nun druckste er herum, schielte in ihren Halsausschnitt, wo noch Mühlstei und ostien zu lesen waren. Rosa kratzte sie weg. Sie wusste, auf was es hinauslief. Eine Verkäuferin mit Hautausschlag schreckte die Kunden ab, erst recht in einer Drogerie. Sie wurde entlassen.
Doch wo sollte sie hin, wenn dieses neue Leben wieder vorbei war? Wie viele Jahre, Tag für Tag mit der Angst vor Enttarnung, hatte sie hinter sich? Würde sie woanders auch so viel Glück haben und unerkannt leben können? Würde sie gezwungen sein, ihr Schneckenhaus unterm Dach aufzugeben?
Als sie ihre eigene Todesanzeige im Internet las, hatte sie ihrer Schwester ein Lebenszeichen senden müssen. Über den Fotoservice der Drogeriekette, die sämtliche Filialen in Bayern belieferte, schickte sie den Ring in einer Filmdose an die Münchner Filiale. Es war schon mal vorgekommen, dass eine Fotopackung beim Transport vom Stapel fiel und in der Deggendorfer Filiale landete, die hatte sie dann nach München zurückgeschickt. Genauso machte sie es nun auch, riss den Abholschein ab und sandte ihn ihrer Schwester per Post ohne Absender. Leider konnte sie nichts dazuschreiben, legte nur den winzigen Zettel mit DB für Deutsche Bank und der Schließfachnummer in den Hohlraum des Rings. Sie hoffte, dass Luise den Mikrofilm der Polizei übergab, damit das Herrhausen-Attentat endlich aufgeklärt wurde. Aber nichts geschah. Dutzende Male hatte sie seither den Telefonhörer in die Hand genommen, um ihre Schwester anzurufen. Wenn das BKA Luise überwacht hatte, nachdem Rosa verschwand, hörten sie dann immer noch ihr Telefon ab?
Vor zwei Jahren hatte die Postfiliale im Ort geschlossen, und eine private Postagentur ohne Telefonservice aufgemacht. Rosa musste zum Bahnhof, um zu telefonieren.
61.
Draußen im Park drückte Carina die Nummer des Notrufs, unterbrach die Verbindung aber, bevor jemand abhob. Was sollte sie denn sagen? Sie wüsste jetzt, wer Eva Bretschneider verstümmelt hatte, und hätte ihn in Verdacht, ihre Schwester in seiner Gewalt zu haben? Bis sie das erklärt hatte, war Dimitri abgehauen.
Was würde ihr Vater tun? Nun war sie da, wo sie immer hingewollt hatte, sie konnte, sie musste selbst entscheiden, Matte kontrollierte sie nicht mehr.
Inzwischen war es dunkel
Weitere Kostenlose Bücher