Die Gesichtslosen - Fey, S: Gesichtslosen
der Zeit kurz nach ihrem Verschwinden war ich unglaublich wütend auf sie, ich dachte, sie wäre mit diesem Russen durchgebrannt. Doch als dann der Anruf kam, dass man sie gefunden hätte … Da war ich zwar entsetzt von den Umständen, aber auch erleichtert, dass das Warten ein Ende hatte. Erst dann nach der Leichenschau fing ich zu zweifeln an. Das ging bis nach der Beerdigung; ich dachte die ganze Zeit, irgendwas stimmt da nicht. Schon allein, dass sie Selbstmord begangen haben sollte … Und diese ganze Geheimniskrämerei, als sie im Innenministerium gearbeitet hat.« Sie lehnte sich zurück. »Dann tauchte irgendwann dieser Russe auf. Ich habe sie zwar nie mit ihm gesehen, aber ich habe mal ihre Freundin, die dann ihre Nachfolgerin beim Staatssekretär wurde, halb im Scherz gefragt, ob sie was von einer Liebschaft wüsste. Sie hielt zuerst dicht, sagte, da gäbe es keinen. Dann verplapperte sie sich aber doch, als ich einfach irgendwas erfand. Ich behauptete, ein Mann wäre da gewesen, und hätte Rosa gesucht, ob sie ihr was ausrichten könnte.«
»Wie hieß diese Freundin?«
»Jutta, nein, warten Sie … Julia, den Nachnamen weiß ich nicht mehr. Sie fiel prompt darauf rein, fragte, wie er ausgesehen hat. Ich flunkerte wild drauflos, sagte, er wäre Ausländer und nur kurz hier. Sie fragte, ob er einen Akzent gehabt hätte. Ich meinte, er hätte irgendwie russisch geklungen, und sich außerdem einen Wodka bestellt. Ich wurde dann aber misstrauisch wegen der DDR . Meine Schwester hatte wenige Wochen vor dem Mauerfall gekündigt. Auch wenn Ostdeutschland von Bayern aus weit weg ist, die Bilder im Fernsehen und überhaupt die ganzen Ereignisse haben jeden berührt. Nur Rosa äußerte sich nicht dazu, sagte, sie müsste über ihre Kündigung hinaus die Schweigepflicht wahren und dürfte über Interna nicht sprechen; angeblich hat das so in ihrem Vertrag gestanden. Der alte Ministerpräsident Strauß hat doch in den achtziger Jahren diesen Milliardenkredit mit der DDR eingefädelt. Der neue Innenminister, unter dem Rosa gearbeitet hatte, hatte die Beziehungen zur DDR -Staatssicherheit bestimmt verlängert. Und später, als diese Tote in der Isar gefunden wurde, fragte ich mich, wieso sich das BKA einschaltete. Merkwürdig, dass die extra aus Wiesbaden anreisten, bloß wegen einer ehemaligen Sekretärin, die seit über sieben Jahren nicht mehr im Ministerium arbeitete.«
»Können Sie sich noch an die BKA -Beamten erinnern? Wie die hießen?«
»Das war nur einer, und den Namen weiß ich nicht mehr, nur dass er so ein Mal am Hals hatte wie der Gorbatschow auf der Glatze. So was merkt man sich.«
Krallinger, klar, wer sonst, dachte Carina. Den hatte die Polizei vermutlich längst geschnappt. Sie kippte den lauwarmen Kakao in großen Schlucken hinunter. Die Schokolade würde hoffentlich ihr inneres Durcheinander zusammenkleben, wenigstens einigermaßen. Auch wenn sie selbst nicht zum Erzählen gekommen war, hatte sie sich etwas beruhigt. »Danke für die Einladung. Ich muss jetzt los.« Sie griff nach Gandhis Leine, die über der Stuhllehne hing.
Luise reagierte nicht, schien ganz in Gedanken versunken und schaute durch sie hindurch. »Dabei wollten wir uns doch zusammen um das Kind kümmern. Rosa hätte zwar nach dem Mutterschutz weiterarbeiten können, aber wir haben beschlossen, ein neues Leben zu beginnen und das Restaurant hier gemeinsam zu betreiben, wie es sich unsere Eltern immer gewünscht hatten.«
Carina stutzte. Welches Kind? In der Rosa-Salbeck-Akte war nichts von einer Schwangerschaft vermerkt. Spuren am Beckenknochen, an Kreuz- und Schambein hätten das verraten. Sie wollte sich erheben.
»Warten Sie, noch was.« Luise Salbeck hielt sie zurück. »Halten Sie mich bitte nicht für verrückt. Einige Jahre nach der Beerdigung ist was Merkwürdiges passiert. Ich habe es bisher niemanden erzählt, es war wie ein Zeichen aus dem Jenseits.«
Carina seufzte. Sie hätte auf ihre Chefin hören sollen, nun wurde es esoterisch.
Luise Salbeck erriet ihre Gedanken. »So ging es mir auch. Ich hab schon geglaubt, jetzt fange ich zu spinnen an. Eines Tages kam per Post nämlich ein Abholschein für einen Film, dabei fotografiere ich gar nicht. In der Filmdose war dann der Ring unserer Mutter, um den wir uns als Kinder immer gestritten haben, Rosa und ich.«
»Ein Ring?« Carina horchte auf. »Dürfte ich den vielleicht mal sehen?«
»Das geht leider nicht, sonst wäre ich damit anstatt mit dieser
Weitere Kostenlose Bücher