Die Gesichtslosen
Kinderprostituierte. Sie hatten keine Ahnung, in welchem Ausmaß ihre Selbstzerstörung schon fortgeschritten war. Sex war für sie einfach eine bequeme Form des Überlebens. Viele ziehen herum und haben keine Ahnung, ob sie HIV-positiv sind oder nicht, also…»
«Mum», unterbrach Essie Kabrias konzentriertes Lauschen. «Weißt du eigentlich, daß Obea immer noch oben ist?»
Kabria war wieder zurück in ihrer Welt, und ihr Blick fiel auf Ottu, der neben dem Sessel stand und eine Socke in der Hand hielt.
«Warum stehst du da mit einer Socke?» fragte Kabria.
«Weiß ich nicht», antwortete er schulterzuckend.
Adade hatte fertig gefrühstückt, war aber noch immer mit der Zeitung beschäftigt.
«Du weißt also nicht, warum du eine Socke in der Hand hältst?»
Ottu merkte an Kabrias Tonfall deren zunehmende Verärgerung. «Ich weiß schon», erwiderte er, was ihn aber nicht dazu brachte, an seiner Position etwas zu ändern. Kabria griff schnell in ihre Reservekiste, um ihren Geduldspegel anzuheben, und fragte mit der Ruhe einer Heiligen: «Da du es ja weißt, würde es dir etwas ausmachen, es mir zu sagen?»
«Was?»
Kabria seufzte erschöpft. «Warum du die Socke in der Hand hältst?»
«Weil ich die andere nicht finden kann.»
Kabrias Geduld wurde auf eine erneute Probe gestellt: «Und wo hast du diese gefunden?»
«In meinem Schuh», murmelte Ottu.
«Und die andere Socke, die war nicht in dem anderen Schuh?»
«Den find ich nicht. Hast du ihn gesehen?»
Kabrias Vorrat an Geduld schien allmählich erschöpft. «Nein, hab ich nicht!» antwortete sie, diesmal in etwas deutlicherem Ton. «Trage ich ihn etwa?»
Ottu sagte jetzt kein Wort mehr. Er ging auf die Knie, suchte und fand den Schuh unter dem Sessel.
Jetzt fiel Kabria Obea wieder ein. «Wo bleibst du denn?» rief sie vorwurfsvoll.
Keine Antwort.
Kabria machte sich auf den Weg zum Zimmer der Mädchen und stieß ohne anzuklopfen die Tür auf. Und erwischte Obea gerade noch, wie sie hastig etwas unter ihrem Kopfkissen versteckte. Kabria reagierte nicht darauf. Sie hatte das Gefühl, es wäre besser so. Und sie verließ sich immer auf ihr Gefühl.
«Kommst du jetzt?» fragte sie in ruhigem Ton Obea, die fertig angezogen und bereit zu gehen war.
«Ja», entgegnete Obea. Kabrias Blicken wich sie aus.
Adade verkündete, sich jetzt auf den Weg zu machen. Kabria rief ihm aus der Distanz ein «Wiedersehen» zu. Obea mußte einsehen, daß Kabria nicht die Absicht hatte, ohne sie das Haus zu verlassen, und erhob sich. Sie rannte an Kabria vorbei, die wieder zurück in ihr Schlafzimmer ging. Dort lief noch immer der Radiowecker. Sie stellte Harvest FM ein. Sylv Pos Studiogast bemerkte gerade: «Es gibt einige Leute und auch religiöse Einrichtungen, die etwas gegen Sexualerziehung haben. Sie sagen, die Promiskuität würde dadurch eher noch gefördert. Doch die wissenschaftlichen Untersuchungen haben das Gegenteil bewiesen. Also müssen Eltern und Erzieher einbezogen werden. Auch wenn die Kinder nicht immer ihre Anweisungen befolgen, bleiben sie doch potentiell deren einflußreichste Informationsquellen.»
Kabrias Gedanken wanderten wieder zu Obeas Kopfkissen. Sie zog sich leise an, schaltete das Radio aus und forderte die Kinder auf, ihre Taschen ins Auto zu bringen. Sie nahm ihre eigene Tasche und den Autoschlüssel, warf noch einen Blick in den Spiegel und verließ das Schlafzimmer.
«Geht schon mal ins Auto», sagte sie den Kindern.
Essie ging voran. Ottu folgte. Obea zögerte kurz, dann schloß sie sich an. Kabria betrat das Mädchenzimmer. Diesmal hielt ihr Gefühl sie nicht zurück. Sie trat an Obeas Bett und hob das Kissen hoch. Sie fand ein altes Schulheft. Warum versteckte Obea ein Schulheft vor ihr? Sie nahm es hoch, dabei fielen einige Broschüren heraus. Die Überschrift PPAG traf sie wie heißer Dampf im Gesicht. Sie betrachtete eines der Hefte: «Sexuelle Gesundheit für ein gutes Leben.» Ihr Herz raste. Sexuelle Gesundheit? Hatte Obea etwa schon oder hatte sie vor.? «Oh Gott! Bitte, lieber Gott! Mach, daß das nicht wahr ist. Bitte!»
«Mum, uns ist heiß. Wir kommen zu spät!» rief Ottu Kabria legte das Schulheft samt Inhalt schnell wieder dahin, wo sie es gefunden hatte, und eilte ins Wohnzimmer. Abena stand schon draußen und öffnete das Tor.
«Was hast du denn noch so lange gemacht?» wollte Ottu wissen.
«Verschiedenes», erwiderte Kabria.
Creamy benahm sich an diesem Morgen wie das zivilisierte Allrad-angetriebene
Weitere Kostenlose Bücher