Die Gesichtslosen
Kabria beschloß, das Obeas Problem sein zu lassen. Wenn sie so gerne ihre Zahnbürste zum Frühstück mochte, dann bitte. Adade war noch im Schlafzimmer und hörte dort auf dem Radiowecker einen anderen Sender. Und Abena, die Haushaltshilfe, räumte die Küche auf. Sie mußte sich beeilen, um rechtzeitig zu ihrer Arbeitsstelle zu kommen, wo sie eine Ausbildung zur Schneiderin machte. Kabria bereitete Essies und Ottus Lunchboxen vor. Auf Harvest FM lief gerade der Pressespiegel. Ständig wurde Kofi Annan erwähnt. Kabria fragte sich, wie viele Leute in den anderen Teilen der Welt von Ghana gehört hatten, bevor Kofi Annan als erster Schwarzafrikaner UN-Generalsekretär wurde. Ottu, der schon längst aufgestanden sein und seine Zähne geputzt haben hätte sollen, war immer noch in seinem Zimmer.
«Ottu!» rief Kabria.
Keine Antwort. Kabria hätte wetten können, daß er sie genau gehört hatte.
Essie putzte auf der Veranda ihre Schuhe. Kabria rief nach ihr. Doch weil Kabria zuerst Ottu und kurz darauf sie gerufen hatte, ahnte Essie nichts Gutes. Sie sollte nur verdonnert werden, Ottu aus seinem Zimmer zu holen. Und darauf hatte Essie keine Lust, schon gar nicht an einem Montagmorgen. Schließlich wußte sie genau, was folgen würde. Bestenfalls gäbe es ein kleines Gerangel. Doch meist entwickelte sich daraus der reinste Nervenkrieg. Warum also sollte sie in Ottus Zimmer gehen, wenn sie genauso mit der Angelegenheit fertig werden konnte, ohne sich auch nur einen Zentimeter von der Stelle zu rühren? Sie räusperte sich, holte tief Luft wie ein Albatros und schrie: «Ottuuuuu», in einer Lautstärke, mit der sie einen Toten in der Arktis hätte wecken können.
Es war Adade, der auf diesen Wahnsinn reagierte. Und zwar auf die typische Art aller ghanaischen Väter.
«Kabria», er streckte seinen Kopf aus der Schlafzimmertür. «Kannst du deiner Tochter mitteilen, daß die Sonne noch nicht mal ganz aufgegangen ist? Warum erlaubst du ihr, derartig herumzuschreien?» Sprach’s und zog sich wieder ins Schlafzimmer zurück.
Ottu tauchte kurze Zeit später auf. Sein Gesichtsausdruck sprach Bände. Er war nämlich von seinem Vater hinauskomplimentiert worden. Kraftprobe zwischen Männern.
Kabria versuchte sich als Friedensengel: «Essie, mußte das sein?»
Aber Ottu wußte ihre Bemühungen offenbar nicht zu schätzen. Und auch Essie schien sich keiner Schuld bewußt. «Mum», maulte sie. «Ottu hat Tomaten auf den Ohren. Hast du das noch nicht gemerkt?»
Der Moderator von Harvest FM, Sylv Po, rettete die Situation. Seine kräftige Stimme kündigte eine Diskussion über HIV und Aids in seiner «Guten-Morgen-Ghana-Sendung» an. Kabria machte sich wieder daran, Ottus Schulbrot zu richten. Dabei fiel ihr Obea ein, die ja wohl noch im Badezimmer steckte. Und wenn sie nicht gerade Zwillinge gebar, hätte sie eigentlich schon lange wieder draußen sein müssen.
«Obea! Bist du immer noch im Badezimmer?»
«Ja, Mum», antwortete Obea gnädigerweise.
«Wieso? Was machst du denn da drin noch?»
«Ich spüle mir gerade die Seife ab, Mum.»
Adade kam aus dem Schlafzimmer und knöpfte sich die Manschetten zu. «Warum verwandelst du mit deinen Kindern dieses Haus eigentlich jeden Morgen in eine Konzerthalle?»
«Meine Kinder?» Kabria zeigte auf ihre Brust.
Adade ignorierte sie und setzte sich an den Frühstückstisch.
Kabria ging in die Küche, um seine Eier zu braten. Als sie sich zu Adade an den Tisch setzte, war sein Kopf hinter der Zeitung verschwunden.
«Adade!?»
«Hmm.»
«Creamy bereitet mir schon wieder Kopfzerbrechen. Der Mechaniker hat gemeint…»
«Kabria!» Der Kopf schoß hinter der Zeitung hervor. «Können wir darüber nach Feierabend reden?»
Sylv Pos weiblicher Studiogast beklagte sich gerade darüber, daß in der Kampagne zur Aids-Prävention die Wichtigkeit von Abstinenz und Treue nicht ebenso betont wurde wie die Bedeutung von Kondomen. Dann sprach sie noch das Thema AIDS vor dem Hintergrund des Phänomens der Straßenkinder an.
«Wissen Sie», fuhr sie fort, «es gibt eine Menge Elend und Hoffnungslosigkeit da draußen auf der Straße, die viele mit Drogen, Sex und Alkohol zu bewältigen suchen. Bei einer Umfrage, die wir kürzlich erstellt haben, waren alle Mädchen, mit denen wir sprachen, sexuell bereits sehr aktiv. Und wir fanden heraus, daß für die meisten von ihnen Vergewaltigung die erste sexuelle Erfahrung war. Und ich spreche von Mädchen im zarten Alter von sieben. Viele waren
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