Die Gesichtslosen
Kabria.
«Ja», antwortete die Frau beflissen.
«Sollte es nicht in der Schule sein?»
Die Frau merkte, daß keine Spenden zu erwarten waren, sondern nur unangenehme Fragen. «Wenn Leute wie Sie mir nichts geben, wie kann ich sie dann zur Schule schicken?» zischte sie. «Also bitte. Wenn Sie mir schon kein Geld geben, dann brauchen Sie mir auch nicht mit irgendwelchen Belehrungen zu kommen. Behalten Sie Ihr Geld und hauen Sie ab mit Ihren Unglück bringenden knallroten Lippen.» Dann schrie sie dem Mädchen zu: «Los, weiter!»
Knallrote Lippen? War soeben ein Wunder geschehen? Sie hatte nämlich wirklich roten Lippenstift aufgetragen!
«Tuut», tönte es.
Kabria blickte zur Ampel. War sie etwa schon wieder grün? Nein! Tuut, tut, tut. Schon wieder. Es klang sanft und weich wie reine Seide. Ja, selbst in der Welt der Autohupen gab es Klassenunterschiede. Sie blickte sich um und sah den Zwillingsbruder von Creamy. Marineblau. Und glänzend wie polierter Marmor. Und der Klang seines Motors war Musik für die Ohren. Er gab Creamy in jeder Beziehung der Lächerlichkeit preis. Wo kam dieses elegante Meisterwerk her? In welcher Ecke Ghanas war das Geld versteckt, das solchen Luxus ermöglichte?
Die getönte Autoscheibe glitt geschmeidig hinab. «Kabria!» rief die weibliche Stimme hinter dem Steuer. «Bist du es wirklich?»
Kabria sah jetzt genauer hin und staunte nicht schlecht. Sie spürte, wie Miss Elegant Creamy musterte. Oder bildete sie sich das nur ein? Es wurde grün. «Huch», rief Miss Elegant. «Bis dann.» Und glitt davon einem Seevogel gleich. Das elegante Schwanzende des Autos war schon verschwunden und Kabria stand noch immer an der Ampel, den Fuß auf Creamys Gaspedal. Wie doch das Schicksal manchmal Ping-Pong spielt. Ein klassischer Fall. Miss Elegant war die Immer-und-Ewige-Klassenletzte in der Schule gewesen. Ihre Talente mußten also definitiv außerhalb der akademischen Welt liegen.
Der Vorfall beschäftigte Kabria noch eine Weile und verdarb ihr gründlich die Laune. Ihre gelockten Haare lagen schweißnaß angeklatscht am Kopf, als sie endlich im Büro ankam.
MUTE war eine Nichtregierungsorganisation, gegründet von Dina, der Chefin. MUTE war nicht etwa ein Akronym, sondern Programm: still, stumm.
Dina hatte an der «University of Ghana» studiert. Sie heiratete einen Studienkollegen. Die Ehe endete nach vier turbulenten kinderlosen Jahren mit der Scheidung. Danach blieb sie ohne Mann und Kind, aber mit viel Zeit für ihr Abschlußexamen, und kompensierte ihre Frustration, indem sie herausfand, daß die normalen Bibliotheken nicht die Informationen bereit hielten, nach denen sie suchte. Sie gewann wieder Zuversicht, und die Idee zu MUTE war geboren.
Zu Kabrias Job gehörte auch Feldforschung. Sie führte Interviews, um Informationen zu bekommen und diese zu verifizieren. Doch meistens saß sie am Schreibtisch, sortierte Papiere und verfaßte Berichte für ihr Dokumentationszentrum, das Dina liebevoll «Die alternative Bibliothek» nannte. Jedes Thema rund um Frauen, Kinder und Soziales war für MUTE interessant. Die Quellen waren Zeitungen, Zeitschriften, Radio, Fernsehen, Gerüchte, Klatsch und Tratsch, Telefongespräche, Beobachtungen, einfach alles.
Als sie Kabrias Stimme vernahm, trat Dina stirnrunzelnd aus ihrem Büro.
«Dina. Hallo. Guten Morgen!» begrüßte Kabria ihre Chefin fröhlich.
Dina antwortete ohne Worte. Sie warf einen langen Blick auf ihre Armbanduhr, dann auf Kabria. Die Botschaft war deutlich zu vernehmen.
«Es ist Creamys Schuld, Dina. Er ist genau vor der Schule stehengeblieben.»
Dinas Gesicht entspannte sich. «Sei froh, daß Creamy nicht reden kann!» gab sie zurück. «Du schiebst ihm einfach alles in die Schuhe.»
«Wenn er mir doch immer Probleme macht, obwohl ich ihm so treu ergeben bin.»
Ihre Kollegin Vickie kicherte. «Kabria, wir kennen dich doch. Selbst wenn du die Erdnußverkäuferin am Makola-Square umfährst, würdest du Creamy die Schuld dafür geben.»
Allgemeines Gelächter, das Dina unterbrach: «Ich habe einige Besprechungen heute morgen. Es kann sein, daß wir etwas Unterstützung vom ‹Projekt für psychisch kranke schwangere Frauen› bekommen. Ein Fernsehsender könnte sich sogar mit einem Dokumentarfilm anfreunden, wenn wir einen guten Bericht liefern.»
«Gott sei Dank. Na wunderbar!» rief Kabria.
«Wenn wir nur einen von diesen Perversen kriegen könnten, der mit ihnen schläft», klagte Aggie, eine weitere Kollegin.
«Ich
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