Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Gesichtslosen

Die Gesichtslosen

Titel: Die Gesichtslosen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amma Darko
Vom Netzwerk:
sie diese Broschüren an Obea gegeben hatte, sondern Obea an sie. Sie war überzeugt, ein gutes Verhältnis zu ihren Kindern zu haben. Sie sprachen offen in ihrer Gegenwart. Doch je mehr sie darüber nachdachte, desto mehr mußte sie zugeben, daß sie bei aller Offenheit ihre Kinder nur als Kinder wahrnahm. Obea war offensichtlich kein Kind mehr, und Kabria hatte nicht bemerkt, daß sie inzwischen andere Fragen und Bedürfnisse hatte.
    Sie ging in die Küche, um das Abendessen vorzubereiten. Abena beschwerte sich, ihre Chefin in der Nähwerkstatt benutze sie zu häufig für persönliche Erledigungen. Kabria versprach, mit der Madam darüber zu reden.
    «Mum», unterbrach Ottu. «Ich möchte etwas mit dir besprechen.»
    «Hat das nicht Zeit?» flehte Kabria.
    Ottu, überraschend verständnisvoll und kooperativ, war bereit zu warten.
    Er trollte sich zurück zu seinen Schwestern und zu seinen Hausaufgaben. Kabria überflog im Schlafzimmer die Broschüren. Beim Blick auf die nächste Generation verhielt es sich ähnlich wie mit dem Horizont. So weit weg und trotzdem so deutlich zu erkennen, als sei er ganz nah. Ihr Herz klopfte wild, als sie das neue Programm durchlas. Für Jugendliche von 10 bis 24. 10? So war das also heutzutage? Mit 10? Naja, das traf aber auf ihre Kinder nun wirklich nicht zu, oder? Genausowenig wie AIDS. Das betraf auch nur die anderen. Aber hatte der Studiogast in Sylv Pos Sendung nicht von Siebenjährigen gesprochen, die bereits sexuell aktiv waren, auf der Straße? Sie mußte an Fofo denken. Die brauchte sie wohl erst gar nicht zu fragen.
    Dina hatte Fofo nach der Arbeit mit nach Hause genommen. Der Arzt im Krankenhaus hätte sie gerne über Nacht zur Beobachtung dabehalten, doch Fofo war bei dieser Vorstellung hysterisch geworden.
    Kabria fragte sich, ob eine solche Aufklärungsbroschüre Mädchen wie Fofo überhaupt erreichten. Und falls ja, wie empfänglich sie für deren Inhalte waren.
    «Mum, kann ich jetzt reinkommen?» rief Ottu.
    «Hat es nicht noch ein bißchen Zeit?» beschwichtigte Kabria. «Geht es um die Hausaufgaben?»
    «Nein.»
    «Nein? Was denn?»
    «Eine Kassette, die du mir morgen kaufen sollst.»
    «Dann wartest du jetzt noch!» rief Kabria.
    Ottu entfernte sich leise grummelnd.
    Kabria wandte sich wieder den Broschüren zu. Ein Slogan erregte ihre Aufmerksamkeit: «Jugendliche helfen Jugendlichen. Peer-to-Peer-Beratung.» Dieser Ansatz erschien ihr sinnvoll. Kids, die nicht in den Genuß der Unterstützung ihrer Eltern kamen, konnten von denen, die eine solche hatten, profitieren. Zu ihrer Zeit war sexuelle Aufklärung lediglich eine Frage von Pille und Kondom gewesen. Diese neue Art der Sexualaufklärung und die Vielfalt der Programme beeindruckten sie. Beratung und Information über sexuelle Gesundheit. Freiwillige AIDS-Beratung und kostenloser Test. Diagnose und Behandlung von Geschlechtskrankheiten wie beispielsweise… Überwinde deine Hemmungen beim Thema Sex gegenüber deinen Kindern. Überspringe die Hürde und lauf los, konfrontiere dich damit. Rede mit ihnen. Gib ihnen Ratschläge. Erzähle ihnen von den Freuden und den Segnungen, die damit verbunden sind, wenn man es zur richtigen Zeit mit der richtigen Person und unter den richtigen Umständen tut. Und sprich offen über den Fluch, den es bedeuten kann, wenn man es zur falschen Zeit mit der falschen Person unter den falschen Umständen tut. Hatte sie das alles verdrängt? Und sich nichts weiter gewünscht, als daß ihre Kinder einfach nur genau das waren und blieben – Kinder? Hatte sie eigentlich nie Anstalten gemacht, ihre Hemmungen zu überwinden? Die Hürde zu überspringen und in Richtung…
    «Mum!»
    Kabria gab auf. Sie schob die Broschüren zurück unter das Kissen und ging zur Tür. Sie mußte ohnehin nach dem Essen sehen. Ottu folgte ihr in die Küche. «Was für eine Kassette?» fragte sie.
    «Lord Kenya.»
    «Kenn ich nicht», bekannte Kabria.
    Ottus Kinnlade fiel herunter. Er war ernsthaft schockiert angesichts der unverzeihlichen Ignoranz seiner Mutter. «Mein Gott, Mum!» Er schüttelte ungläubig den Kopf. «Ich bin ja nur froh, daß meine Freunde das nicht gehört haben. Alle kennen den Lord.»
    «Na, das freut mich aufrichtig», antwortete Kabria.
    «Außer dir natürlich.»
    «Alle außer mir? Wie kannst du so etwas behaupten?»
    «Das hast du doch gerade selbst gesagt.»
    «Daß ich meinen Gott, den Herrn, nicht kenne?»
    «Nicht Gott, Mum. Lord! Der König.»
    «Natürlich ist unser Lord

Weitere Kostenlose Bücher