Die Gesichtslosen
auch der König.»
«Oh, Mum. Du lebst wirklich hinterm Mond. Ich meinte, daß Lord Kenya der König von ‹Hip-Life› ist.»
Kabria hörte tatsächlich heute zum allerersten Mal von diesem Lord, der nach Meinung ihres Sohnes König war. «Also dieser Lord King ist also der Herr, so wie bei ‹der Herr ist mein Hirte›?»
Ottu blickte seine Mutter mitleidig an. «Ach, Mum!» Er schüttelte wieder den Kopf.
«Ja! Genau! Und Kenya, dessen Hauptstadt Nairobi ist…»
«Mum!» schrien Obea und Essie plötzlich wie aus einem Mund. Kabria hatte gar nicht bemerkt, daß die beiden hereingekommen waren.
«Ach, ich soll also nicht fragen? Kennt ihr denn nicht das Sprichwort: Wenn du etwas nicht weißt, dann frage?»
«Okay, Mum. Frag!» gab Obea nach.
«Und ist er aus Kenya?»
«Muuuumm!»
«Okay. Ich erkundige mich im Musikladen und kaufe es für euch, wenn…»
«Oh, danke, Mum! Danke. Danke. Vielen Dank», sangen sie unisono.
Angesichts dieser Begeisterung sparte sie sich das «… wenn ich es schaffe», das sie eigentlich noch hatte hinzufügen wollen. Offensichtlich hatten alle drei den Plan ausgearbeitet. Ottu war nur zum offiziellen Sprecher auserkoren worden. Was bedeutete: Wenn sie ihre Ruhe haben und sich nicht mit allen dreien anlegen wollte, würde sie ihnen eben diesen Lord King, der gar nicht aus Kenya kam, besorgen. Sie kannte die Rolling Stones und die Beatles. Auch wenn diese aus dem Ausland kamen, aus Großbritannien. Damals waren sie in Ghana verrückt nach ihnen gewesen, wie ihre Generation in aller Welt. Und ihre Mutter hatte sich damals gewundert, wie eine Musikgruppe sich selbst als «rollende Steine» bezeichnen konnte. Und einmal hatte sie gefragt, ob der Name Beatles etwas mit «beetles», mit Käfern, zu tun habe. Ihre Mutter wiederum war eher an den Sound von Dr. K. Gyasi und E. T. Mensah und seine Tempos Band gewöhnt gewesen.
Sie widmete sich noch eine Weile den Broschüren. Dann rief sie Obea zu sich. «Wer hat sie dir gegeben?» fragte sie.
«Eine Freundin in der Schule. Ihre Mutter arbeitet bei dieser Organisation.»
«Hat sie etwas mit der Peer-to-Peer-Beratung zu tun?»
«Ja, Mum. Warum? Bist du sehr sauer?»
«Aber nein! Ganz im Gegenteil. Ich habe mich eher gefragt, ob das etwas wäre, was man auch bei Straßenmädchen anwenden könnte.»
Obea wunderte sich. «Straßenmädchen? Wie kommst du darauf, Mum?»
Kabria rief Essie und Ottu herbei und wollte nun von allen wissen, was sie über Straßenkinder wußten.
«Das sind doch die, die Eiswasser und Hundeleinen am Straßenrand verkaufen?» antwortete Obea.
Kabria lächelte. «Ja, die auch.» Dann erzählte sie ihnen von Fofo.
«Sie hat gar kein Zuhause?» fragte Ottu erschrocken.
«Nein.»
«Keine Mum und keinen Dad?»
«Nicht in dem Sinn, wie du mich und Daddy hast. Sie kümmern sich nicht um sie. Sie kaufen ihr keine Kleider. Sie geben ihr nichts zu essen. Sie geben ihr keine Liebe. Sie wohnt nicht bei ihnen.»
«Dann kann sie doch bei uns wohnen.» Essie war immer für schnelle Lösungen zu haben.
«Man kann nicht einfach jemanden von der Straße auflesen und mit nach Hause nehmen. Das hat Konsequenzen.»
«Aber du hast doch gesagt, sie ist jetzt bei Auntie Dina», hakte Obea nach.
«Ja. Vorübergehend. Und unter der Aufsicht von MUTE.»
«Warum tun das ihre Mum und ihr Dad?» wollte Essie wissen.
«Das will MUTE jetzt herausfinden», erklärte Kabria und wandte sich an Obea. «Sie ist etwa in deinem Alter. Und wenn ihre Eltern sich wie richtige Eltern verhalten würden, wäre sie vermutlich in derselben Klasse wie du. Vielleicht sogar an derselben Schule. Wer weiß?»
«Wenn ich sie wäre, dann würde ich meine Eltern hassen. Gibt es viele davon, Mum?» wollte Obea wissen.
«Straßenmädchen? Ja. Zu viele. Und selbst wenn es nur Fofo gäbe, wäre es eines zuviel.»
Obea geriet ins Grübeln. «Mein Gesellschaftskundelehrer hat uns erklärt, daß John F. Kennedy einmal gesagt hat…»
«Wer?» unterbrach Ottu.
«Kennedy war mal Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika», antwortete Kabria.
«Aber er wurde umgebracht», ergänzte Obea.
Ottu war erschüttert. «Wer hat das gemacht?»
«Schlechte Menschen», sagte Kabria. «Aber Obea, du sagtest gerade…»
«Ja. Kennedy hat folgendes gesagt: Die Zukunft einer Nation hängt ab von den Perspektiven ihrer Jugend in der Gegenwart oder so ähnlich.»
«Und wie recht er damit hatte, was?» kommentierte Kabria.
«Ja, Mum.» Obea strahlte ihre Mutter
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