Die Gesichtslosen
irgendwo gesehen. Ihr Gesicht kommt uns bekannt vor.»
«Mich? Also, vielleicht irgendwo hier auf dem Markt. Ich komme oft hierher.» Sie eilte davon.
«Jetzt fällt’s mir ein!» sagte das jüngste Lehrmädchen, nachdem Kabria gegangen war. «Das war sie. Die Frau, der gestern die Geldbörse gestohlen wurde.»
Kabria betete inbrünstig, daß Fofo bei Creamy auf sie warten würde. Unterwegs kamen ihr die beiden Dinge in den Sinn, die so charakteristisch waren für Agbogbloshie. Das eine waren die Straßenmädchen und Kayayoos und das andere die entmutigende Obdachlosenenklave, die der Markt auf seinen Schultern trug, mit dem herzlosen Namen Sodom und Gomorrha.
Einst war die Gegend hier als Fadama bekannt, benannt nach den frühen Siedlern, die in der Mehrzahl aus dem Norden hierher gekommen waren. Der Name bedeutete auf Haussa: Sumpf. Und genau das war die Gegend auch. In den frühen sechziger Jahren, kurz nach der Unabhängigkeit, machten eine Überschwemmung, verursacht durch tagelange heftige Regenfälle, und die Entscheidung der Regierung, die Lagune in die Niederungen von Fadama umzuleiten, die Evakuierung der Bewohner nach Zongo erforderlich. Etliche Jahre lag die Gegend von Alt-Fadama brach. Die damalige Regierung erwarb den Boden gegenüber von Agbogbloshie, um Industrie anzusiedeln, und zahlte den ursprünglichen Siedlern eine entsprechende Entschädigung. Nach der Zerstörung des Makola-Markts in den Wirren der Revolution von 1979 mußte dringend ein neuer Markt her für die vielen fliegenden Händler. So entstand der Agbogbloshie-Markt. Hoffnungsvolles Gewerbe siedelte sich an, nachdem die restlichen Bewohner durch die Polizei zwangsevakuiert und in Militärlastwagen in neue Behausungen in Madina gebracht worden waren. In der Annahme, die Gegend schon bald zu einem blühenden Handelsplatz machen zu können, wurden die Yams-Verkäufer wieder angesiedelt. Und es begannen sich allmählich Obdachlose am Ostufer der Lagune und im Westen von Abossey-Okay anzusiedeln. Straßenhändlerhütten sprießten aus dem Boden. Flüchtlinge aus dem Norden, die dem Konkomba-Krieg von 1995 entkommen wollten, ließen sich mit Kind und Kegel hier nieder. Die Stadtverwaltung von Accra siedelte sich ebenfalls dort an, der Nzema Kokosnußöl-Markt, der Zwiebelmarkt ebenso die Straßenhändler. Die blühenden Handelsund Geschäftsaktivitäten hatten auch ihre Schattenseiten. Und – Ironie des Schicksals – obwohl nahe des Korle-Bu-Leichenhauses eine der vornehmsten christlichen Kirchen ihren Traum von einem Tempel zu Ehren ihres allmächtigen Gottes wahrgemacht hatte, entwickelte sich die Gegend anders als erhofft. Wann und wie der Name zustande gekommen war, weiß keiner so genau. Man weiß nur, daß irgendwann jemand beschlossen hatte, die Untugenden dieses Ortes zu betonen, indem er ihn Sodom und Gomorrha nannte. Mit dem wachsenden Einfluß der Migranten aus dem Norden und aus allen anderen Teilen Ghanas und als Konsequenz aus dem Handeln unverantwortlicher, ihre Kinder vernachlässigender Eltern, wuchsen die Verderbtheit und das Laster zu monumentaler Größe an. Dreck und Sünde, Leid und Gleichgültigkeit, Hilflosigkeit und Elend regierten den Alltag. Und Mädchen wie Fofo waren darin gefangen, sie wuchsen auf, ohne jemals wirklich zu erfahren, wie es war, einfach nur ein Kind zu sein.
Kabria betete noch ein bißchen, und der liebe Gott da oben zeigte sich gütig, denn Fofo wartete schon neben Creamy. Sie lehnte in gekrümmter Haltung und mit gesenktem Kopf am Auto. Kabria rief ihr von weitem etwas zu, doch Fofo reagierte nicht. Kabria beschleunigte ihren Schritt. «Fofo», rief sie wieder. Fofo hob den Kopf und Kabria wäre beinahe vor Schreck umgefallen.
«Warte hier», keuchte sie. «Beweg dich nicht. Bleib ganz ruhig. Ich bin gleich wieder da.» Sie rannte zum Telefoncenter und rief im Büro an. Vickie war am Telefon. «Vickie», stieß sie hervor. «Sag Dina, ich bringe das Mädchen mit ins Büro. Da ist was passiert. Ihr rechtes Auge ist blutunterlaufen, ihre Lippen total aufgesprungen, das Gesicht ist ganz geschwollen. Jemand hat sie fürchterlich zusammengeschlagen.»
Sie fuhren schweigend fort von Agbogbloshie, und als Kabria sich von dem ersten Schock erholt hatte, wollte sie wissen: «Was ist passiert? Wer hat dir das angetan?» Fofo antwortete nicht und drehte den Kopf zur Seite.
«Du wirst mit mir reden müssen, Fofo», drängte Kabria. «Wir können dir helfen, aber nur wenn du mit uns sprichst. Und
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