Die Gesichtslosen
wollte eigentlich mit Fofo kommen, aber sie hat sich’s anders überlegt», eröffnete Odarley.
«Warum?» fragte Maa Tsuru mit tonloser Stimme.
«Weil… sie war unsicher, sie wollte kommen und Sie besuchen wegen…»
«Hey!» krächzte eine Stimme aus dem Zimmer gegenüber. «Mädchen, hast du deine guten Manieren in die Ferien geschickt? Hast du schon mal von so etwas wie einer Begrüßung gehört?»
Odarley wandte sich abrupt um und wollte gerade die passende Antwort geben, als sie erkannte, wen sie vor sich hatte. Naa Yomo war mit ihren 87 Jahren das älteste Mitglied des Haushalts, sie war Mutter, Großmutter und Urgroßmutter für alle und jeden. Wenngleich die waschende Frau mit Odarleys Höflichkeit nichts anzufangen gewußt hatte – aus welchem Grund auch immer – Naa Yomo erwartete sie von ihr – aus welchem Grund auch immer. Odarley ging also hinüber und begrüßte sie, wie es sich gehörte. Naa Yomo erwiderte den Gruß und fragte: «Wie geht es dir?»
«Danke gut, Naa Yomo.»
«Und deiner Freundin?»
«Ihr geht es auch gut, Naa Yomo.»
«Ist sie nicht mitgekommen, um ihre Mutter zu besuchen?»
«Doch, Naa Yomo. Sie ist auf dem Weg. Ich bin vorausgegangen. Aber ich geh mal und sag ihr, sie soll sich beeilen.»
«Gut. Gut. Und, mein Kind, sag ihr auch, sie soll mich begrüßen, wenn sie kommt, ja?»
«Ja, mach ich, Naa Yomo. Es tut mir leid, daß ich Ihnen nicht gleich guten Tag gesagt habe. Aber ich weiß gar nicht, was hier los ist. Als ich der Frau am Eingang guten Tag sagen wollte…»
«Ich weiß. Ich habe es gesehen. Es ist schon in Ordnung. Geh nur.»
Maa Tsuru war inzwischen wieder in tiefe Traurigkeit versunken. «Ich bin zur Aussätzigen in meinem eigenen Haus geworden», murmelte sie, mehr zu sich selbst als zu Odarley. Dann fragte sie: «Warum, sagtest du, hat Fofo es sich unterwegs anders überlegt?»
«Weil etwas passiert ist, Maa Tsuru», flüsterte Odarley.
Maa Tsurus Gleichgültigkeit verwandelte sich in Unruhe. Sie hatte einen Verdacht und Angst, er könnte sich bestätigen.
«Weißt du, was…»
«Ja», unterbrach Odarley. «Poison, Maa Tsuru. Poison.»
«Oh Gott! Geh und hol sie, Odarley. Beeil dich. Geh schon.» Und während Odarley davoneilte, rief sie noch einmal: «Oh Gott!»
In den 365 Tagen des vergangenen Jahres hatte Fofo gerade zwei Mal das Haus ihrer Mutter betreten, obwohl Sodom und Gomorrha nur ein paar Kilometer weit entfernt lag. Jetzt war das neue Jahr schon fünf Monate alt, und wenn nicht der Alptraum mit Poison geschehen wäre, wäre sie auch jetzt nicht hierher gekommen. Odarley hatte Fofo unterwegs schon vorbereitet, und so grüßte sie außer Naa Yomo niemanden, als sie das Haus betrat.
«Mutter», sprach sie kühl.
«Fofo», erwiderte Maa Tsuru verunsichert. «Hat er dir etwas getan?»
Sie schaute hinüber zu Naa Yomo. Die alte Dame beobachtete die beiden aufmerksam. Das machte Maa Tsuru nur nervöser.
«Gehen wir hinein?» Sie ging voraus, Fofo folgte ihr. Odarley blieb im Vorraum zurück.
Der Raum war mit einem alten, halbdurchsichtigen Vorhang unterteilt. Einer der Halbbrüder Fofos schlief auf einer Matte vor dem Vorhang. Maa Tsuru klammerte eine Ecke des Vorhangs an einer Leine fest und betrat den Teil des Raumes, der als Schlafzimmer diente. Sie ließ sich aufs Bett fallen und wartete. Fofo zögerte, dann suchte sie sich einen Platz in größtmöglicher Distanz zu ihrer Mutter. Sie ließ den Blick durchs Zimmer schweifen und blickte schließlich Maa Tsuru an. Irgend etwas stimmte hier nicht. Dann dämmerte es ihr. Es fehlte etwas.
«Wo ist er, Mutter?»
Maa Tsuru zuckte zusammen.
«Er ist fort», sagte sie mit kaum hörbarer Stimme.
«Gegangen?» Das war ein Schmerzensschrei. «Nach allem, was er Baby T angetan hat? Uns allen? Gegangen? Und du hast dabei gestanden und diesen Schwächling ziehen lassen? Einfach so?»
Maa Tsuru kämpfte mit den Tränen. Sie brachte kein Wort mehr heraus.
«Warum ist er gegangen, Mutter? Und bevor er ging, hast du ihn daran erinnert, was du für ihn getan hast? Welche Opfer du gebracht hast? Hast du das wenigstens gemacht?»
Maa Tsuru begann zu weinen.
«Ich hab dich was gefragt, Mutter.»
«Geh, Fofo», stieß Maa Tsuru hervor. «Geh!»
Fofos Gesicht verdüsterte sich. «Hier wiederholt sich die Geschichte, was? Du schmeißt mich raus, Mutter? Wegen ihm?»
«Nein, nein! Ich schmeiß dich nicht raus. Nicht aus diesem Zimmer. Nicht aus diesem Haus. Ich meine, du sollst gehen. Weggehen. Weg
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