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Die Gesichtslosen

Die Gesichtslosen

Titel: Die Gesichtslosen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amma Darko
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der Gartenmauer entmutigen würden.
    Ihr zweiter Sproß, Essie, war neun Jahre alt und Quell einer ganz anderen Sorge. Essie war um Mitternacht geboren. Kabria hatte den uralten Aberglauben ignoriert, der Mitternachtgeborenen unterstellte, sich mit ihren Füßen überall sonst, bloß nicht auf dem Boden der Tatsachen zu bewegen. Deshalb hatte sie auf das traditionelle Ritual verzichtet, Essies Füße drei Mal heißen Sand berühren zu lassen und zwar drei Tage nach ihrer Geburt. Neun Jahre später fragte sie sich unweigerlich, ob sie damit nicht vielleicht doch fahrlässig gehandelt hatte. Besonders wenn sie sich die Methoden und Zeitpunkte ansah, die sich Essie für ihre finanziellen und materiellen Anliegen aussuchte.
    Das ging dann nämlich immer so: «Mum. Du machst dir zu viele Sorgen. Weißt du das eigentlich? Es tut dir gar nicht gut.»
    Als wäre Kabria der Meinung gewesen, Sorgen seien so eine Art Vitamin für den täglichen Bedarf. Als hätte sie die Ansicht vertreten, sie täten ihrer Seele gut. Als müßte sie nicht stets mit gerunzelter Stirn das Geld in ihrer Geldbörse nachzählen und immer wieder Posten von ihrer Einkaufsliste streichen. Kurz: einen finanziellen Balanceakt vollführen.
    «Wofür hat man Geld, wenn man es nicht ausgibt, Mum», predigte Essie wie eine Priesterin von der Kanzel. «Aber, wenn es dir lieber ist, kann ich mit der Bluse auch noch bis morgen warten.»
    «Bluse? Was für eine Bluse?» stöhnte Kabria und mußte sich entscheiden zwischen dem Wunsch, Essie zu knebeln, und dem mütterlichen Gebot, Ruhe und Geduld zu bewahren, selbst bei einer so unglaublichen Provokation von einem Wesen, dem sie ganze neun Monate Unterschlupf in ihrem Bauch gewährt hatte und das auch noch völlig umsonst. Nicht für einen Monat hatte sie Miete verlangt.
    «Es ist eher ein Pullunder», entgegnete Essie leichtherzig, als käme sie gerade von einem anderen Stern.
    «Pullunder? Hast du nicht gesehen, wie ich gerade mein Geld immer wieder nachgezählt habe?»
    «Deswegen sag ich ja, ich kann auch noch bis morgen warten.»
    «Ach, deshalb hast du das gesagt? Und wer sagt, daß ich morgen das Geld dafür habe? Wo soll es denn herkommen?»
    «Siehst du, Mum? Deshalb habe ich gesagt, du machst dir zu viele Sorgen. Morgen ist morgen, und du machst dir schon heute Sorgen darüber. So ist es doch?»
    Das jüngste Kind, Ottu, war der einzige Sohn. Und daß er der einzige Junge war, gab er mit seinem Verhalten deutlich zu verstehen. Vor sieben Jahren fiel es Gott dem Allmächtigen ein, Ottus damals noch asexuelle Seele zu befragen. Er gab ihm so die Möglichkeit, sein Geschlecht selbst zu wählen. Indem Ottu sich für das männliche entschied, tat er Kabria wahrhaftig einen großen Gefallen, denn sie hatte schon zwei Töchter und wünschte sich nichts sehnlicher als einen Sohn. Doch damit erpreßte er sie jetzt, wann immer sich die Gelegenheit bot. Zum Beispiel als er seine Lunchbox zum zweiten Mal im Halbjahr verloren hatte und Kabria anordnete, daß er nun eine ganze Woche lang sein Schulbrot in einer schwarzen Plastiktüte mit in die Schule nehmen müsse.
    «Mama, aber ich habe doch deinen Problemen ein Ende gemacht, weil ich als Junge zur Welt gekommen bin und dir Respekt verschafft habe», gab er dann zu bedenken.
    Kabria war verblüfft. Sie hörte sich selbst fragen: «Welchen Problemen?»
    «Ich habe einen Schulfreund», eröffnete Ottu die Werbekampagne für sich selbst, «die sind sechs…»
    «Sechs Kinder?»
    «Ja.»
    «Und das heutzutage?»
    «Deshalb ist mein Freund auch etwas Besonderes.»
    «Ottu, bitte, jedes Kind ist besonders. Jedes Kind sollte das für seine Eltern sein, auch wenn sie zehn oder zwanzig davon haben.»
    «Mum, du verstehst das nicht», erwiderte Ottu vorwurfsvoll. «Er ist auch der einzige Sohn. So wie ich. Und seine Großmutter sagt, er sei besonders. Seeehr besonders.»
    Kabria hegte allmählich einen Verdacht und fragte vorsichtig: «Hat er auch gesagt, warum seine Großmutter das gesagt hat?»
    «Ja. Weißt du, dadurch daß er ein Junge geworden ist, hat er seiner Mutter einen Haufen Respekt verschafft und ihren Schmerzen ein Ende bereitet.»
    «Ihren Schmerzen?»
    «Ja. Es heißt, ein Baby auf die Welt zu bringen, tut weh. Seeehr weh. Oder?»
    Kabria ignorierte das. Ihr teurer Sohn fuhr unbeirrt fort. «Weißt du, die Großmutter meines Freundes hat gesagt, wäre mein Freund nicht als Junge zur Welt gekommen, hätte sie, als die Mutter des Vaters meines Freundes, darauf

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