Die Gespenster von Berlin
dunkler langer Raum, am Ende rechts ein winziges Fenster, ein großer Tisch in der Mitte, ein gusseiserner Kerzenleuchter hängt tief darüber. Und jedes Mal bestätigten sich Annes Beschreibungen. Als kenne sie diese toten Zimmer mit den zerschlissenen Vorhängen und schmutzigen Türbeschlägen, mit den fauligen Möbeln und eingetrübten Tapeten ganz genau. Einmal fanden sie auf ihren Streifzügen eine Flasche Rotwein ohne Etikett in einer Schutthalde. Die Flasche war mit dickem Staub belegt und ihr Glas und Korken war von so besonderer Beschaffenheit, als käme sie aus uralter Zeit. Vielleicht sechzig, vielleicht hundert Jahre konnte die Flasche alt sein. Die Freunde öffneten die Flasche, aber keiner traute sich den Wein zu kosten. Schließlich probierte Anne. Der Wein schmeckte ihr so gut, dass sie die ganze Flasche austrank. Dann legte sie sich in der Jugendherberge ins Bett. In dieser Nacht träumte sie, durch Schloss Goseck zu gehen. Sie solle, so lautete der Befehl, zur Kapelle von Schloss Goseck kommen. Auf dem Weg dorthin konnte sie Wände durchschreiten. Körperteile durch dicke Mauern stecken, den Kopf, einen Arm, ein Bein. Das machte Spaß. Plötzlich kam sie nicht weiter. Der Traum endete. Am nächsten Tag erfuhr Anne, dass in der Nacht auf Schloss Goseck eine alte Frau gestorben war, die ein lebenslanges Wohnrecht gehabt hatte. Die schrullige Alte, so erzählte man es, sei eine Adelige gewesen, eine Gräfin, deren Familie diese Burg lange Zeiten bewohnt hatte. Diese Geschichte aber vollendete sich erst ein halbes Jahr später, im Mai 1989. Anne saß in einer Zelle im Gefängnis Hohenschönhausen, denn die Flucht war ihr ja misslungen. In dieser Zelle ging der Traum plötzlich weiter. Sie stand wieder an der Stelle im Schloss, wo es zur Kapelle ging, wo sie damals nicht weiterkam. Nun sieht sie auch die Landschaft, dazu einen Bernhardinerhund und sich selbst in einem weißen Kleid mit einem kleinen Jungen an ihrer Seite, der etwa fünf Jahre alt ist. Sie weiß plötzlich, dass diese Frau und dieses Kind getötet wurden, vom eigenen Ehemann. Er war jahrelang auf Kreuzzug gewesen und sie war nicht keusch geblieben. Das Kind wird wegen der Schande getötet und vor dem Altar begraben, die Frau wird lebendig eingemauert. Aber was hat das mit der alten Gräfin zu tun?, fragt sie im Traum, und sie bekommt sogar eine Antwort: »Die alte Frau auf Schloss Goseck war die Letzte ihres Blutes und konnte erst sterben, als du kamst.« – Das war ich selbst, dachte Anne, als sie wieder in ihrer Zelle in Hohenschönhausen aufwachte. Das war mein früheres Leben. Das hat mit mir heute überhaupt nichts mehr zu tun.
Als sie aus dem Knast rauskam und die DDR aufhörte ein verschlossenes Land zu sein, fuhr sie ans Mittelmeer und brachte von dort einen Stein mit. Damit fuhr sie zum zweiten Mal in ihrem Leben zum Grab von Franz Kafka, nach Prag. Sie legte den Stein auf das Grab und entschuldigte sich ausgiebig bei ihm dafür, im Jahr vorher einen kleinen Stein dort entwendet zu haben. Sie erklärte ihm, wieso sie das getan hatte. Sie wollte den Stein, der damals ganz oben auf dem Grabstein lag, als Glücksbringer mitnehmen, für ihre Flucht und für alles, was an Gefahren auf sie zukam. Sie sagte, sie habe einen Teil von ihm besitzen wollen, sie verehrte ihn doch so sehr, aber sie habe nicht bedacht, dass jemand anderes den Stein ihm dargebracht hatte. Sie hätte seither auch nur Pech erlebt, ein ganzes Jahr nur Strafe und Unglück. Und wenn die DDR nicht zusammengebrochen wäre, würde sie immer noch schmoren. Deshalb, sagte sie ihm, bringe sie ihm den Stein zurück. Es sei zwar nicht der Stein von damals, den habe sie in den Wirren des Jahres verloren, aber es sei ein schöner Stein vom Mittelmeer, und er möge so lieb sein, ihn anzunehmen, die Entschuldigung zu akzeptieren und ihr vergeben.
Anne zog nach Berlin, studierte Kunstgeschichte, jobbte als Briefsortiererin und war eine Weile lang so was wie die Ehrenvorsitzende am Tresen der Kneipe Kommandantur. Einmal hörte sie noch von Schloss Goseck. Zwei Jahre nach dem Traum, also 1991, lernte sie einen jungen Mann kennen, der kam aus Weißenfels, einem Nachbarort von Goseck. Annes Freunde erzählten ihm von den gruseligen Vorgängen auf dem Schloss und von Annes Traum, in dem ihr eine Frau und ein Kind erschienen waren, in der Nacht, als die alte Gräfin starb. Und dass Anne seither felsenfest behauptet, dass ein Kind vor dem Altar der Schlosskapelle Goseck beerdigt
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