Die Gespenster von Berlin
worden sei. Der junge Mann wurde kreideweiß und erzählte, dass man in der Schlosskapelle eine weiße Marmorplatte gefunden habe, unter der ein Kinderskelett lag.
»Das war mein Kind«, sagte Anne, »zur Zeit der Kreuzzüge. Dieses Kind habe ich geführt.«
In Berlin hörte das mit dem Gläserrücken und den Geisterwahrnehmungen fast auf, was natürlich sonderbar ist, denn Berlin ist voller Gespenster, und diese haben keinen Grund, Anne auszuweichen. Hin und wieder stellte sich ihr noch ein Geist zur Seite, aber sie merkte das manchmal gar nicht. Einmal hielt sie ein Gespenst für den dunkel gekleideten Mitbewohner. Er kam leise herein und schaute ihr über die Schulter und las den Text, den sie am Schreibtisch verfasste, interessiert mit. Sie unterhielt sich mit ihm. Eine sehr einseitige Unterhaltung, er antwortete nicht. Als sie sich umdrehte, war da niemand. Als wäre der Mann nie da gewesen.
Ende der 1990er Jahre lebte Anne für einige Jahre in einer heruntergekommenen Wohnung in der Invalidenstraße 104, schräg gegenüber vom Naturhistorischen Museum. Später gab ihr der Eigentümer des Hauses viel Geld, damit sie auszog und das Haus saniert werden konnte. Es war Teil einer hufeisenförmigen Wohnanlage, gebaut zur Gründerzeit, in unmittelbarer Nähe zur Charité und diversen Militäreinrichtungen. Theodor Fontanes Novelle Stine spielt zu jener Zeit – um 1890 – genau in diesem Abschnitt der insgesamt drei Kilometer langen Invalidenstraße. Dass Fontane für seine Stine gerade die Invalidenstraße auswählte, war kein Zufall. An dieser Straße mit ihren unterschiedlichsten Gebäuden und Institutionen bildete sich die Gründerzeit besonders eifrig ab, die Invalidenstraße war Blut, Schweiß, Dreck und Geschwindigkeit: Drei Fernbahnhöfe (Lehrter, Stettiner und Hamburger Bahnhof), Maschinenbaufabriken, Exerzierplätze, Kasernen, das Invalidenhaus, ferner ein Gefängnis und die Charité; dazu kamen etliche Wohnhäuser und Kirchhöfe. Fontane schilderte das sozial heikle Leben der Schwestern Ernestine Rehbein und Pauline Pittelkow in der Invalidenstraße 98 e zwischen Liebeständel und Eheversprechen, zwischen Hoffnungen auf einen sozialen Aufstieg und Liebesglück zugleich. Die kleinmütige Ständegesellschaft lässt alle Träume misslingen, und nur der Tod triumphiert.
Stine sah die Schwester an.
»Ja, du siehst mich an, Kind. Du denkst wunder, wie du mich beruhigst, wenn du sagst: ›Es is keine Liebschaft.‹ Ach, meine liebe Stine, damit beruhigst du mich gar nich; konträr im Gegenteil. Liebschaft, Liebschaft. Jott, Liebschaft is lange nicht das schlimmste. Heut’ is sie noch, unmorgen is sie nich mehr, un er geht da hin, und sie geht da hin, un den dritten Tag singen sie wieder alle beide: ›Geh du nur hin, ich hab’ mein Teil.‹ Ach, Stine, Liebschaft! Glaube mir, daran stirbt keiner, un auch nich mal, wenn’s schlimm geht. Nein, nein, Stine, Liebschaft is nich viel, Liebschaft is eigentlich gar nichts. Aber wenn’s hier sitzt (und sie wies aufs Herz), dann wird es was, dann wird es eklig.«
In jenem Haus 104 fing Anne wieder mit dem Gläserrücken an. Es war spätnachts und sie waren zu fünft und es war alles vorher geplant. Ein Freund brachte einen ganz großen Wein mit, den ungewöhnlichsten und delikatesten Tropfen, den Anne je getrunken, später schrieb sie eine Kurzgeschichte über ihn, den Wein. Die Sitzung begann wie immer: »Großer Geist, wir rufen dich.« Im Glas erschien eine junge Frau, die mit nur dreiundzwanzig Jahren an Tuberkulose gestorben war. Sie antwortete auf die Fragen »Wo bist du?« und »Woher kommst du?«: »Ich bin auf dem Hof« und »Ich bin auf dem Hof begraben«. Dass hinter dem Hufeisen-Haus einst der Armenfriedhof der Charité war, wo man ohne viel Aufwand die verstorbenen Patienten, Seuchen- und Hepatitis-C-Opfer beerdigte, hatte Anne von Nachbarn gerüchteweise gehört. In diesen Gerüchten und Gesprächen ging es vor allem um die Ratten, die vom alten Charité-Campus herkamen und die es sich nicht nehmen ließen, den Keller zu erobern und die Tonnen zu durchwühlen. Nach ihren Raubzügen zogen sie sich durch ihre Tunnel wieder in den Krankenhauspark zurück. Da also war der Geist hergekommen? Auf die Frage »Was hast du?« antwortete der Geist der jungen Frau »Hass« und »Wut«. Bei den nächsten Fragen kam das Wort»Oficier«, genau so geschrieben, mit einem f und einem c. Im Laufe der Sitzung setzte sich die Geschichte zusammen: Der Geist im Glas war
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