Die Gespenster von Berlin
Friedhof war ein Ort, wo die »Stinos« – die Stinknormalen – nicht hingingen. Hier hatten die Grufties gemeinsam mit den Toten ihre Ruhe. Außerdem einte sie der gleiche Sinn für Poesie, der gleiche Sinn für Musik: Waiting for tomorrow never comes. Aber es gibt Partygäste, die sollte man niemals mit nach Hause nehmen, wirklich niemals.
Der erste Spuk trat während eines Stromausfalls auf. Es wurde still und dunkel, nicht nur im ganzen Haus, gleich in der ganzen Straße. Silke hatte das Gefühl, jemand sei mit ihr im Zimmer und beobachte sie. Sie sah sich um, sie konnte trotz Dunkelheit etwas erkennen. Oben an der Decke war ein Nebel. Sie spürte einen Sog. Alle Geräusche verschwanden und die Ohren fühlten sich taub an.
Dann, an einem warmen Abend im Sommer, wo die Balkontür offen blieb und die Luft so dicke stand, dass der Baum vorm Fenster kein bisschen Abkühlung brachte, saß Maria auf ihrem Hochbett und nähte. Plötzlich bemerkt sie einen Druck auf der Bettdecke. Normalerweise ist eine Bettdecke außen kühl, aber die Decke war heiß und eine Hand kam heraus und schüttelte die ihre. Maria schrie. Da verschwand die Hand. Es gab ein Rascheln auf dem Balkon. Wo war sie hin? Maria konnte die ganze Nacht nicht mehr schlafen, sie war fix und fertig.
Eines Tages kam der Onkel zu Besuch. »Der Onkel kannte keine Geschichten von der Wohnung«, so Silke. Er wollte früh schlafen und legte sich auf die Couch. Als die Mädchen nachts heimkamen, fanden sie ihn im Bad, dort hatte er sich eingeschlossen, in der Hand ein Messer. Die Augen waren weit aufgerissen, als er endlich die Tür aufschloss und die Mädchen erkannte. Solche Augen! Er trat aus dem Bad, zitterte, sagte kein Wort. Sie gaben ihm ein Bier, und als das nicht half, auch noch den Weinbrand vom Vater. Er erzählte. Er lag auf der Couch und schlief. Plötzlich wurde es ganz kalt, er spürte eine Kälte, die langsam auf ihn zukam. Ihm war, als würde sie ihn gleich in den Nacken beißen. Da drehte er sich um und sah den Nebel im Wohnzimmer, und aus dem Nebel streckten sich ihm Händeentgegen. Sie kamen auf ihn zu, wie um ihn zu greifen. Da sprang er von der Couch, rannte in die Küche, nahm sich ein Messer und schloss sich im Bad ein. Dort verharrte er mit Herzrasen und mit solch übermächtigem Grauen, dass er fürchtete, vergehen zu müssen.
Silke hatte ihren Kaffee ausgetrunken und das Baguette gegessen. Sie musste zum Sportplatz.
Aber das Grabkreuz! Da gab es noch Fragen.
War es nun geklaut oder gefunden worden, gewissermaßen zugelaufen?
»Mir war nie ganz wohl dabei«, sagt Silke. »Ich mag das nicht, vom Friedhof. Aber damals zu Gruftie-Zeiten hat man das cool gefunden.« Sie nimmt ihre Tasche und will los.
»Wo ist das Grabkreuz jetzt?« Silke setzt sich wieder und holt Luft für die letzte Episode, die sie wohl lieber ausgespart hätte.
Das Grabkreuz lag noch eine Weile auf Marias Schreibtisch, ohne dass etwas passierte. Und irgendwann waren die Mädchen keine Grufties mehr. Die Mauer fiel, die Schulzeit war zu Ende, die eine Schwester begann eine Lehre und die andere Schwester fing im Prenzlauer Berg in angesagten Cafés zu kellnern an. Maria zog als Erste aus. Silke bestand darauf, dass Maria das Kreuz mitnahm. Maria nahm also das Kreuz mit in ihre Wohngemeinschaft und lehnte es dort an eine Wand in ihrem Zimmer. Zunächst passierte nichts, was an die Vorfälle in der elterlichen Wohnung hätte erinnern können. Doch als Maria nach einigen Monaten innerhalb der WG das Zimmer wechselte, ein helleres, aber kleineres Zimmer bekam, ließsie einige Dinge im alten Zimmer zurück. Unter anderem das steinerne Kreuz. Die Frau, die das Zimmer übernahm, ließ das Kreuz einfach stehen. Sie war eine sehr in sich gekehrte Frau. Silke war oft in der WG zu Besuch, hat aber kaum Erinnerungen an sie. Die junge Frau ertrank während eines Urlaubs in Spanien, sie schwamm etwas zu weit hinaus und geriet in ein Gebiet mit gefährlichen Strömungen. Einige Leute aus der WG glaubten, dass es Selbstmord war, so depressiv hatte sie zuletzt gewirkt, und eigentlich hätte sie in Behandlung gehört. Man hatte sich gewundert, dass sie überhaupt die Energie aufbrachte, in Spanien alleine Urlaub zu machen. Vielleicht trieb sie eine Todessehnsucht dorthin? Für die Eltern der jungen Frau aber war es ein Badeunfall.
An dem Tag, an dem sie ertrank, stand ihr Zimmer unter Wasser, das war merkwürdig. Keiner wusste, wo das Wasser eigentlich herkam, es gab ja kein
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