Die Gespenster von Berlin
das Dienstmädchen eines »Oficiers«, der mit seiner Gattin einst in Annes Wohnung gelebt hatte. Das Mädchen schlief in der winzigen Kammer zum Hof. Sie war auch die Geliebte des Offiziers und richtig verknallt. Doch als sie an Tuberkulose erkrankte, scherte das den Mann wenig. Sie wurde auf dem Armenfriedhof der Charité begraben, nicht weit vom Wohnhaus entfernt. Der Mann aber führte ungetrübt sein Leben fort, nur sie allein war um alles Schöne betrogen. Deshalb die Wut. Nachdem die Freunde dies gehört hatten, beschlossen sie, etwas zu unternehmen. Die junge Frau tat ihnen natürlich wahnsinnig leid, eine aus der Runde heulte vor Ergriffenheit. Anne aber wollte vor allem die unbändige Wut aus der Wohnung kriegen. Sie öffnete eine weitere Flasche des außerordentlichen Rotweins und hielt eine Rede auf die junge Frau. Sie sprach über das kurze Leben, das der Armen nur vergönnt war, und über die denkwürdig schlechten Erfahrungen, die sie mit dem gefühllosen Mann gemacht hatte. Mit einer Schweigeminute gedachten sie ihres herben Schicksals und wünschten der Herzwunden nichts weniger, als ewigen Frieden zu finden. Dann war Ruhe im Glas. – Ja, auch dies ist ein ergreifendes Frauenschicksal aus der Invalidenstraße, zwar nicht von Fontane, aber immerhin aus dem Reich der Geister. Die Gespenster-Reporterin kann es natürlich nicht dabei belassen und schaut in den alten Stadtplänen der Jahrhundertwende nach. Hier findet sich tatsächlich der Alte Charité Friedhof, der genau hinter dem Haus 104 verlief. Er führte entlang der Hessischen Straße bis zum Waschhaus des Krankenhauses. Es gibt kaum noch Informationen über diesen kleinen Friedhof, nicht einmal die auf solche Fragen spezialisierte Mitarbeiterin der Charité, Frau Beer, die historische Geländeführungen anbietet, weiß etwas darüber. »Ich müsste sehr tief tauchen«, sagt sie. »Ich müsste sehr tief tauchen.« Den Friedhof gab es ab 1726. Heute steht auf seinem Platz die neue gläserne Mensa Nord und das Seminar für ländliche Entwicklung. Den urigen Mauern, wilden Efeubeeten mit ihren dunklen Hundertmeter-Ranken wäre zuzutrauen, dass sie Überbleibsel des Friedhofes sind. Aber vor Ort will nichts an die Begräbnisstätte für Arme und Kranke erinnern, nur alte Karten, Geisterdienstmädchen und Gerüchte unter den von Ratten geplagten Anwohnern tun es noch. Und was den »Oficier« angeht: In Haus 104 lebte tatsächlich ein Militärangehöriger, das geht aus den Berliner Adressbüchern hervor, speziell aus dem »Verzeichniß sämmtlicher Häuser Berlins mit Angabe derer Eigenthümer und Miether«. Ab 1893 lebte ein gewisser Müller dort, der in allen Adressbüchern der Folgejahre abwechselnd als Feldwebel und Lieutenant verzeichnet ist, und ab 1904 als »Lieutenant a. D.«; danach taucht er gar nicht mehr auf. Im Heer des Deutschen Kaiserreichs galten die »Feldwebellieutenants« als Offiziere bzw. Subalternoffiziere und konnten entsprechende Rangabzeichen und Begriffe in Anspruch nehmen. Ob dieser Feldwebel Müller nun der besagte Liebesschurke war, und ob er fesch war und ob die Geschichte mit dem lungenkranken Dienstmädchen überhaupt stimmen mag, das kann das Berliner Adressbuch nicht verraten. Diese Episode darf unheimlich bleiben.
Bevor wir es dabei bewenden lassen, noch eine allgemeine Überlegung hinsichtlich der besonderen Begabung, die Annes Leben begleitet: In ihrer Jugend in der DDR gab es viel mehr Geister, die sich ihr offenbarten. Sie brachte Kraft und Interesse für deren Geschichten auf. Dieses Interesse nahm mit zunehmendem Alter ab. Denn auch mit dem Rotwein und den eigenen Kräften muss man irgendwann haushalten. Besonders, wenn ein Kind zu versorgen, ein Mann zu lieben, ein Arbeitsleben zu führen ist. Der Weg der Weisheit, wenn er über den Wein führt, ist ein zu harter. Anne war in Berlin nicht mehr das Medium, das sie in Magdeburg einst war. Der Schrecken der Stasi, die Bezwingerin der Abhörwanzen über Zeit und Raum, das war sie jetzt nicht mehr. Was aber in Berlin geschah: Sie bemerkte, dass Geister und Gespenster von vielen Leuten versorgt werden. Anne trifft ständig Menschen, die von Geisterbegegnungen erzählen können. Wie ihr Nachbar, der Maler. Sie besuchte ihn und ihr war so, als wäre noch jemand in seiner Wohnung, vielleicht waren es Geräusche. Sie sah sich um.
»Ach, jetzt haste auch was gehört?«, sagte der Maler. »Ich habe eine Untermieterin, aber wer weiß, vielleicht ist es nur ein
Weitere Kostenlose Bücher