Die Gespenster von Berlin
Vater gegeben. Wir verlassen das Atelier und stehen wieder auf dem Hof. Er wird zornig. »Warum beschäftigen Sie sich mit so einem Scheiß? Verwunschene Häuser!? So ein Scheiß!«
Ohne eine Antwort abzuwarten, entfernt er sich, ungeheuer flink, zur Straße und ist weg. Schockiert und mit wackligen Knien gehe ich ins Quergebäude. Die Namenauf den Briefkästen werden mit einem ausgesprochen miesen Gefühl notiert. Gott sei Dank sieht das niemand. Das zusammengestauchte Selbstbewusstsein würde für Erklärungen nicht mehr reichen. Und weitere Mieter anzusprechen ist nun ganz unmöglich. »Entschuldigung, spukt es vielleicht bei Ihnen? Haben Sie auch schon den Geist einer unglücklichen Telefunken-Zwangsarbeiterin bemerkt?«
Der zornige Fotograf hat ja recht: Verwunschene Häuser? So ein Scheiß!
Wieder auf der Straße, zurück im Licht der Sonne, zerstiebt der Traum von der Gespenstergeschichte und dem ganzen Gespensterbuch. Die Schimpfe des erfolgreichen Porträtisten von Politikern, Schauspielern und Showstars hat das zutiefst Lächerliche dieser Geistergeschichtenjagd deutlich gemacht. Jeder Schritt auf diesem Terrain lächerlich, jede Frage lächerlich. Deshalb wird sie mit unsicherer Stimme gestellt. Darauf hoffend, dass die Befragten das Spiel mögen, als eine Art neuer Mode aus Berlin, diese Gespenster eben. Aber eines bleibt merkwürdig. Das Wort »verwunschene Häuser« hat allein er benutzt. Dieses Märchenwort reinster Güte ist vorher nie gefallen. Verwunschene Häuser. Wieso nur hat der Fotograf »verwunschene Häuser« gesagt?
ZwangsarbeiterInnen im Tempelhofer Ufer 10
Die Telefunken GmbH unterhielt im Quergebäude ab 1941 ein Zwangsarbeiterlager, in dem zunächst 119 Französinnen untergebracht waren. Später reduzierte sich die Anzahl und es kamen auch Männer dazu. Unweit von hier hatte die Telefunken, seit 1941 dem Elektrounternehmen AEG zugehörig, ihr Werksgelände: Am Halleschen Ufer 10.
Telefunken war die führende Firma auf dem Gebiet der elektronischen Kriegsführung im Dritten Reich. Sie stellte die Gerätschaften für Funk- und Radarnetze her: Richtfunknetze der Wehrmacht, Flugzeug- und Bordradar, Peilgeräte für die Luftwaffe sowie Warnempfänger für die U-Boote der Kriegsmarine.
Im Oktober 1943 wurde das Lager vermutlich auf das Nachbargelände Tempelhofer Ufer 8 verlegt.
Doch die Angaben in den noch verbliebenen Dokumenten, vor allem der Schriftverkehr zwischen dem Polizeiamt Mitte und dem Gesundheitsamt Kreuzberg, führen unter dieser Adresse noch bis zu 55 männliche und weibliche Insassen hauptsächlich aus den Niederlanden auf. Allerdings mit der Hausnummer 110. Die 110 aber ist eine Geisteradresse, das Tempelhofer Ufer endete schon bei der Nummer 37. Es liegt wohl ein Abschreibfehler vor.
Wie sehr Berliner Zwangsarbeiter – im damaligen Jargon weniger treffend »Fremdarbeiter« genannt – unter der Gefangenschaft und Versklavung leiden mussten, lässt sich durch wenige Hinweise verdeutlichen: Tausende von ihnen starben an Tuberkulose, der so genannten »Lagerkrankheit«, infolge von Überbelegung und Mangelernährung. Die Menschen waren in den Bombennächten schutzlos, durften sich nicht in die Luftschutzkeller begeben und waren zum Teil gezwungen, lebensgefährliche Wachen bei Luftangriffen zu übernehmen. Sie waren in allem schlecht versorgt und hatten ständig Angst um ihr Leben. Die Anzahl der Berliner ZwangsarbeiterInnen verschiedener Herkunft bewegte sich zwischen anfänglich 110 201 (April 1941) bis hin zu maximal 421 123 (Juni 1944) auf zuletzt geschätzte 370 000 Personen.
Die Scham und Schockstarre nach der Schimpfe des Promi-Fotografen ist nach einem halben Jahr überwunden. Zu einigen wenigen Namen der Hausbewohner, damals verschämt von Briefkästen abgeschrieben, ließen sich Telefonnummern finden. Der erste Versuch. Ein freundlich klingender Mann geht an den Festnetzapparat, und er hört sogar zu. »Können Sie mir etwas über Ihr Wohnhaus erzählen?«
»Dieses Haus hat viele Geschichten. Welcher Abschnitt interessiert Sie denn am meisten?«
»Zum Beispiel die Zeit, als Zwangsarbeiter der Telefunken AG dort untergebracht waren. Wissen Sie was darüber?«
Der Mann sagt, diese Zeit interessiere ihn auch sehr, und er habe bereits davon gehört. Dem Gebäude selbst sei anzumerken, dass es kein reines Wohnhaus gewesen war. Überall gebe es Verbindungen zu dem Nachbargrundstück, zugemauerte Gänge, verschlossene Türen und ein sehr weites, zum Teil
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