Die gestohlene Zeit
ein unwiderstehliches Verlangen, mir den Ring über den Finger zu streifen und ihn nie wieder abzulegen. Ich wollte aller Welt zeigen, dass er nun mir gehörte. Allen voran dieser arroganten Assistentin. Ein großartiges Gefühl der Überlegenheit machte sich in mir breit. Sie war ein Nichts. Udo war ein Nichts. Im Gegensatz zu mir. Nun hatte ich die Macht und würde es allen zeigen …
Ein greller Feuerschweif aus Schmerz zog durch meinen Kopf, und mit einem Aufschrei warf ich den Ring von mir. Er prallte mit einem hellen Klirren auf den Holzboden und rollte ein Stück, ehe er halb unter Udos Schreibtisch liegen blieb. Hastig wischte ich mir meine Hände an meinem Kleid ab, als hätte ich eine Blume pflücken wollen und stattdessen in faulig-zähen Kompost gegriffen. Die Macht des Schmucks war mir unheimlich. Etwas Ähnliches hatte ich damals in den Bergen auch schon gefühlt, nachdem ich den Ring im Gras gefunden hatte, erinnerte ich mich plötzlich. Aber jetzt war es um ein Vielfaches stärker – und beängstigender – gewesen.
Der Rabe flatterte auf meine Schulter und sah mich mit schiefgelegtem Kopf an.
»Es ist der Ring, Jonathan«, flüsterte ich. »Er blendet seinen Träger und macht ihn glauben, er könnte durch ihn alles haben und alles erreichen.«
Jonathan knirschte mit dem Schnabel und zwickte mich sanft ins Ohr, so wie er es gerne tat, wenn er mich aufmuntern wollte. »Du hast die Magie erkannt, und daher hat sie keine Macht mehr über dich«, sollte dieses Kneifen heißen.
Dann segelte er von meiner Schulter und schnappte sich im Sturzflug das Schmuckstück vom Boden. Mit der Kostbarkeit im Schnabel hockte er sich vor mich hin und sah mich auffordernd an.
»Kannst du ihn nicht für mich tragen, bis wir in den Bergen sind?«, startete ich noch einen Versuch, doch Jonathan schnarrte protestierend und ließ den Ring vor meine Füße fallen.
»Also gut, du hast gewonnen«, seufzte ich. Mit spitzen Fingern hob ich den Schmuck auf und ließ ihn in die winzige Handtasche gleiten. Dann ließ ich schnell den Verschluss zuschnappen. Tatsächlich konnte ich immer noch etwas wie ein Kribbeln fühlen, aber das Gefühl der boshaften Überlegenheit war verschwunden. Ich atmete auf.
Da bekam ich von dem Raben einen nicht besonders sanften Schnabelhieb, knapp oberhalb meines Fußknöchels.
»Aua, bist du verrückt?«, rief ich empört, aber Jonathan flatterte nur aufgeregt mit den Flügeln.
»Weg hier«, schien er mir zuzurufen, und tatsächlich flog er durch die offene Bürotür ins Vorzimmer. Schon war er durch das offene Fenster entwischt und hob sich kurz darauf nur noch als kleiner, schwarzer Punkt vom blauen Sommerhimmel ab.
Ich konnte gerade noch die Tür zu Udos Zimmer schließen und mich auf den Stuhl vor den Schreibtisch der Sekretärin fallen lassen, da flog die Eingangstür zum Vorzimmer auf, und eine aufgebrachte Lena rauschte aus dem Flur herein.
»Unverschämtheit«, keifte sie, und sekundenlang wurde mir vor Schreck eiskalt. War ich nicht schnell genug gewesen, und sie hatte mich aus dem Chefbüro kommen sehen? Hatte sie Verdacht geschöpft? Krampfhaft versuchte ich, meinen schnellen Atem zu beruhigen.
»Von wegen, der Maserati wäre nur noch Schrott! Ich komme in die Tiefgarage – und da steht die Karre heil und unversehrt!«, ereiferte sie sich. »Natürlich war kein Schwein da. Die haben mich total verarscht. Und dann musste ich noch geschlagene drei Minuten auf den Aufzug warten und schließlich die Treppe nehmen, weil irgend so ein Idiot im dritten Stock nicht eingestiegen ist, sondern ewig die Tür blockiert hat!«
Ich musste mich beherrschen, damit sie mein erleichtertes Grinsen nicht sah. Der »Idiot« war Lilly gewesen.
»Bestimmt so eine Oma, die beim Orthopäden war«, giftete Lena. »Ich sage Udo schon die ganze Zeit, er soll juristisch erwirken, dass die Praxis ins Erdgeschoss zieht. Dann wäre der Lift nicht dauernd von irgendwelchen Alten und Kranken besetzt.«
Ich beschloss, dass es höchste Zeit war zu gehen. Udos Assistentin war fast genauso ekelhaft wie ihr Boss. Jetzt musste ich nur noch einen sauberen Abgang hinlegen.
»Wissen Sie was? Auf den Schreck hole ich uns erst mal eine Latte macchiato«, sagte ich. Dank Leon aus dem Internet-Café vor ein paar Tagen wusste ich ja nun, wovon ich sprach.
Fast dankbar blickte sie mich an.
»Das wäre super. Für mich mit Caramel-Flavour«, bestellte sie ganz selbstverständlich, aber ich nickte artig.
»Kommt
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