Die gestohlene Zeit
herausgerissene Fußnägel vorgaukelten. Er hatte schließlich jahrelang Holgers Machenschaften miterlebt. Sie hatten ihn nicht interessiert, denn er war ja nicht betroffen gewesen. Bis jetzt.
Das erste Mal in seiner Ehe hatte er das Bedürfnis, Claudia anzurufen. Fahrig kramte er sein Handy aus der Anzugtasche und merkte erst, wie schweißnass seine Finger waren, nachdem ihm der Finger von der Tastatur rutschte.
Claudia hörte das Telefon klingeln und sah auf dem Display Udos Namen. Aber sie hatte keine Lust, dranzugehen. Zum ersten Mal in ihrer Ehe sprang sie nicht, wenn ihr Mann anrief. »Mein Mann«, dachte Claudia. Das klang nach gemeinsamen Abendessen, gemütlichen Leseabenden zu zweit und langen Gesprächen bei einem Glas Wein. All das, was sie seit ihrer Heirat mit Udo nie gehabt hatte.
Unversehens setzte sich der Gedanke in ihr fest, wieso sie eigentlich die ganze Zeit bei ihm geblieben war. Wenn es nach dem Priester ging, vor dem sie sich damals das Jawort gegeben hatten, wäre Udo dazu verpflichtet gewesen, sie »zu lieben und zu ehren, bis dass der Tod euch scheidet«. Er hatte fünfundzwanzig Jahre weder das eine noch das andere getan. Stattdessen hatte er sie mit der gleichen Hartnäckigkeit und Penetranz, mit der jetzt das Telefonklingeln ertönte, betrogen, belogen und – wenn sie ihn zur Rede stellte – niedergemacht. Außerdem war er in all den Jahren nicht nur immer gemeiner, sondern auch fetter und selbstgerechter geworden. Was also hielt sie noch länger in dieser Ehe?
Sie wartete auf Wut, Trauer oder wenigstens irgendein anderes Gefühl, doch da war nichts. Gleichgültig starrte Claudia auf den Apparat und wartete, bis er verstummte. Dann wandte sie sich ab und ging ins Schlafzimmer, um zu packen. Noch heute würde sie Linus und Karla nehmen und zu ihren Eltern ziehen. Und morgen würde sie eine Anwältin anrufen, um die Scheidung einzureichen.
»Verdammt, wo treibt sich die dumme Kuh nur wieder herum?«, fluchte Udo und drückte wütend die »Auflegen«-Taste seines Handys. Mit einem beleidigten Piepsen schaltete sich das teure Smartphone aus, und zwar komplett.
»Mistding!«, fluchte er und presste seinen fleischigen Daumen auf den Einschaltknopf, um es wieder zu booten. Doch vergeblich, das Display blieb schwarz. »Scheiße!«, brüllte er entnervt. Einige Passanten drehten die Köpfe und sahen zu ihm her. Udo glaubte, in ihren Blicken Verachtung zu lesen. Verachtung für einen Verlierer, der nicht einmal mehr sein Handy im Griff hatte. Geschweige denn seinen Job. Unvermittelt überfiel ihn ein Gefühl des Versagens, das er zuletzt in der Schule verspürt hatte. Das war, ehe er den Ausflug in die Berge gemacht hatte und der Ring sein Eigentum geworden war …
Udos Gedanken stockten. Der Ring! Er würde ihn retten! Mit zwei Schritten war er die Treppe vom Gerichtsgebäude hinuntergeeilt und wedelte mit den Armen: »Hallo, Taxi!«
Grußlos stürmte Udo in das Vorzimmer der Kanzlei. Frank hockte vor Lenas Schreibtisch und roch zwei Meter gegen den Wind nach seinem teurem Cognac, obwohl es erst kurz nach ein Uhr mittags war.
»Udo! Du glaubst nicht, wen ich vorhin gesehen habe …«, fing er an, doch der ignorierte ihn. Ebenso wie seine Sekretärin, die ihm etwas von einem Praktikum erzählen wollte.
»Keine Zeit«, schnauzte Udo und verschwand in seinem Büro. Er knallte die Tür zu und sperrte sorgfältig von innen ab. Dann atmete er zwei Mal tief durch und versuchte, sich zu beruhigen. »Alles wird gut, alles wird gut, alles wird gut«, murmelte er vor sich hin und stellte sich vor, wie er gleich den Safe öffnen und die kleine, schwarze Schachtel herausnehmen und aufklappen würde. Beim Anblick des Rings wäre seine Welt wieder in Ordnung, dessen war er sich sicher. Das flaue Gefühl im Magen, das ihn im Griff hatte, seit sich die Tür zum Gerichtssaal geöffnet hatte und die Belastungszeugin erschienen war, ignorierte er. Stattdessen konzentrierte er sich voll und ganz darauf, die richtige Zahlenkombination in den Safe einzugeben. Trotzdem vertippte er sich bei drei von sechs Ziffern und musste noch einmal von vorne beginnen. Heute war anscheinend nicht sein Tag. Aber das würde sich gleich ändern. Sobald er den Ring sehen würde, ihn herausnehmen, vielleicht sogar über den Finger streifen …
Mit einem schrillen, langgezogenen Ton und dem Aufblinken des grünen Lämpchens entriegelte sich die Tür des Tresors. Gierig suchten Udos Hände im Inneren des Safes
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