Die gestohlene Zeit
nehmen.
»Sie behaupten also, mit Herrn Holger Henschek an dem fraglichen Abend die ganze Zeit über in dessen Diskothek gewesen zu sein, ist das richtig?«, wandte sich die Staatsanwältin an Jimmy, den kleineren der beiden Zeugen. Der nickte, aber es wirkte nicht mehr so überzeugt wie vorhin. Die Staatsanwältin sprach betont sachlich, wobei sie sich an niemand Besonderen zu wenden schien: »Nun, wir alle wissen, wie Paragraph 153 Strafgesetzbuch formuliert:
›Wer vor Gericht oder vor einer anderen zur eidlichen Vernehmung von Zeugen oder Sachverständigen zuständigen Stelle als Zeuge oder Sachverständiger uneidlich falsch aussagt, wird mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft.‹
«
Man sah deutlich Jimmys Adamsapfel, der beim Schlucken auf und ab hüpfte wie ein nervöser Frosch. Die Anwältin sah es auch, denn sie wandte sich nun auch Jimmys Kumpel Jack zu, der ebenfalls als Zeuge zu Holgers Gunsten ausgesagt hatte.
»Meine Herren, wenn ich Ihnen nachweise, dass Sie vor Gericht bewusst gelogen haben, mache ich Ihnen das Leben zur Hölle. Oder ich sorge dafür, dass die harten Jungs im Knast das übernehmen«, sagte sie im Plauderton.
Dabei lächelte sie so freundlich, dass Jack, der Größere, aber Dümmere von beiden, unwillkürlich zurücklächelte, ehe ihm die Bedeutung ihrer Worte klarwurde. Schlagartig sanken seine Mundwinkel nach unten, und auch Jimmys Augenlider begannen nervös zu zucken.
»Sind Sie sich immer noch sicher, den ganzen Abend mit Herrn Henschek verbracht zu haben?«, hakte die Anwältin schnell nach.
»Einspruch, Euer Ehren! Die Kollegin versucht, die Zeugen einzuschüchtern und zu beeinflussen!«, brüllte Udo und sprang auf, um zu verhindern, dass einer der Männer am Ende einknickte.
»Abgelehnt«, sagte der Richter. »Setzen Sie sich, Herr von Hassell. Frau Staatsanwältin, fahren Sie fort!«
Udo fiel mehr auf seinen Stuhl zurück, als dass er sich setzte. Was war denn hier los, dachte er. So hatte der Richter ja noch nie mit ihm geredet. Und seit wann erlaubte er der Staatsanwältin, dieser hässlichen grauen Maus mit ihrem Kurzhaarschnitt und diesen unmöglichen Keilhosen,
seinen
Zeugen zu drohen?
Udo sah auf und blickte direkt in Holgers Gletscheraugen. Er zuckte zusammen. Diesen Gesichtsausdruck kannte er. Mit Holger war nicht zu spaßen, nur hatte bisher dieser Blick noch nie ihm gegolten, sondern irgendwelchen armen Schweinen, die kurz darauf ohne Schneidezahn dastanden oder im schlimmsten Fall ihr erstes Fingerglied im Taschentuch mit nach Hause nehmen konnten.
Daher missachtete er die richterliche Order und stand erneut auf. »Ich verlange die sofortige …« Weiter kam Udo nicht.
»Sie setzten sich sofort hin, Herr Verteidiger, oder ich lasse die Verhandlung unterbrechen!«, donnerte der Richter, und sein Ton veranlasste Udo, dem Befehl tatsächlich Folge zu leisten. Er hatte plötzlich keine Energie mehr, zu widersprechen. Sein Körper fühlte sich nach zwei Nächten ohne Schlaf und einem kapitalen Kater an. Er wunderte sich immer noch darüber, da ging die Tür zum Gerichtssaal auf. Als er die schmale, blasse Frau mit den dunklen Augen sah, die in Begleitung ihrer Anwältin den Gerichtssaal betrat, wusste er, dass dies sein erster verlorener Prozess sein würde. Dann sagte die Anwältin die unheilvollen Worte: »Ich beantrage die Anhörung einer Zeugin.«
Eine halbe Stunde später stand er vor dem Gerichtsgebäude und zündete sich mit zitternden Händen eine Zigarette an. Er konnte immer noch nicht glauben, wie der Prozess ausgegangen war. Das Gericht hatte Holger zu fünf Jahren verdonnert. Natürlich würde Udo Berufung einlegen, aber seine innere Stimme sagte ihm, dass er genauso gut versuchen könnte, eine Betonwand mit einem Schaumgummihammer zum Einsturz zu bringen.
Innerhalb weniger Minuten hatte sich im Gerichtssaal das Blatt vollständig gewendet. Jack und Jimmy waren umgefallen wie Pappfiguren am Schießstand und hatten ihre Zeugenaussage widerrufen. Daraufhin hatte die dunkelhaarige Frau Holger mit ihrer Aussage den Rest gegeben.
Das Urteil des Gerichts lautete auf Menschenhandel, Freiheitsberaubung und Dokumentenfälschung. Holger würde in den Knast wandern, aber Udo war trotzdem nicht vor ihm sicher. Wenn Holgers Kumpel erfuhren, dass ihr Boss hinter Gittern saß … Er wollte gar nicht daran denken. Trotzdem konnte er nichts gegen die Bilder vor seinem inneren Auge tun, die ihm gebrochene Finger und
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