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Die gestohlene Zeit

Die gestohlene Zeit

Titel: Die gestohlene Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heike Eva Schmidt
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es auf. Er flog herein und setzte sich auf meine Schulter.
    »Drück mir jetzt bloß die Daumen, dass Udos Bürotür nicht abgesperrt ist«, sagte ich. Mit vor Aufregung eiskalten Händen drückte ich die Klinke herunter – und die Tür schwang auf. Erleichtert stieß ich die Luft aus, aber mein Herz wollte nicht aufhören zu rasen. Denn jetzt kam der entscheidende Teil.
    Ich stürzte zu dem Tresor. »Wie lauten die Zahlen?«, flüsterte ich Jonathan zu. Der Rabe setzte sich auf den Boden. Mit seinem Schnabel klopfte er zwei Mal auf das Parkett.
    »Zwei«, sagte ich, und Jonathan nickte zustimmend mit dem Kopf. Meine Hand zitterte wie ein welkes Blatt am Baum, und ich hatte Mühe, die richtige Taste des Zahlenfeldes zu treffen.
    Jonathan gab erneut ein Klopfen von sich, diesmal ertönte es viermal. Ich drückte auf die Taste, aber vor lauter Nervosität verfehlte ich die Vier und drückte versehentlich die Zahl daneben, fünf.
    »Oh nein«, rief ich erschrocken, »was mache ich denn jetzt?«
    Hektisch glitt mein Blick über die Schaltfläche. Ganz unten links stand der Buchstabe »C«. Auf meinem Taschenrechner früher war dies das Symbol für »Löschen« gewesen. Vielleicht war es hier ja genauso. Oder es war die Taste, um den Alarm auszulösen, dachte ich, und mir schlotterten die Knie. Aber ich musste mich entscheiden, und zwar schnell. Jeden Moment könnte Udos Assistentin zurückkommen. Vielleicht hatte Lillys Trick nicht funktioniert? Was, wenn diese Lena bereits wieder auf dem Rückweg wäre und gleich die Tür aufgehen würde? Dann würde sie mich in flagranti in Udos Büro ertappen und anfangen zu schreien …
    Panik breitete sich in mir aus und lähmte mich wie der Stich eines Skorpions. Ich hielt die Luft an, bis mein Brustkorb zu bersten schien. Da spürte ich Jonathans Federgewicht auf meiner Schulter. Beruhigend rieb er seinen Schnabel an meinem Hals.
    »Also gut, ich versuche es«, sagte ich und drückte mit zitternden Fingern die C-Taste. Kein Alarm schrillte los, nur die zwei Sternchen, die statt der Nummern auf dem grünen Display geblinkt hatten, verschwanden. Erleichtert stieß ich den Atem aus. Das war noch einmal gut gegangen! Ganz ruhig jetzt, redete ich mir selbst gut zu. Diesmal tippte ich die richtigen beiden Zahlen. Jonathan krächzte zufrieden und übermittelte mir durch Klopfzeichen den Rest des Codes.
    Kurz nachdem ich die sechste Nummer eingetippt hatte, blinkte ein grünes Licht, und ein greller Piepton ertönte. Erschrocken zuckte ich zusammen, weil ich dachte, der Lärm müsse das ganze Haus aufschrecken. Doch alles blieb still, bis auf ein leises Klicken, mit dem die stählerne Tresortür aufschnappte. Ich riss sie auf.
    Zuerst dachte ich, der Safe wäre genauso leer wie der in Udos Haus. Bis ich eine schlichte, schwarze Schachtel erspähte, die ganz nach hinten geschoben und in der Dunkelheit des Tresorinneren kaum zu sehen war.
    Behutsam zog ich das Kästchen zu mir heran und nahm es in die Hand. Jonathan krächzte leise, aber ich konnte seine Aufregung heraushören. Er flog auf die Lehne von Udos Schreibtischstuhl und äugte gespannt zu mir herüber. Mein Herzschlag dröhnte in meinen Ohren, und mein Atem ging so hastig, als hätte ich gerade die sechs Stockwerke zur Kanzlei im Dauerlauf bewältigt.
    Der Rabe trippelte ungeduldig auf und ab, also klappte ich den Deckel der Schatulle behutsam zurück. Und da lag er – Laurins Ring. Ich erkannte ihn sofort wieder. Der grüne Stein hatte nichts von seiner geheimnisvollen Strahlkraft eingebüßt, und seine verschlungenen Stränge glänzten noch immer in einem warmen Goldton.
    Ich nahm den Ring aus seinem Kästchen. Danach schloss ich die schmale Schachtel und legte sie zurück. Ein leichter Schubs, und die Tür des Safes schloss sich mit einem leisen Klicken.
    Ich konnte den Blick kaum von dem Schmuckstück wenden. Laurins Schatz und mein Pfand für mein und Jonathans Leben als Menschen. Eigentlich hatte ich vorgehabt, den Ring in der Clutch zu verstauen und sofort aus Udos Büro zu flüchten, ehe seine Assistentin zurückkam.
    Bestimmt hatte sie inzwischen gemerkt, dass der angebliche Unfall mit dem Maserati ein dummer Scherz oder ein Trick gewesen war und der Wagen ihres Chefs unversehrt in der Tiefgarage stand. Nur ich wusste, dass es sich bei der Anruferin um Lilly gehandelt hatte, die Udos Assistentin aus der Kanzlei locken sollte, damit ich den Ring ergattern konnte. Die Zeit drängte, trotzdem verspürte ich auf einmal

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