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Die gestohlene Zeit

Die gestohlene Zeit

Titel: Die gestohlene Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heike Eva Schmidt
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noch einmal halblaut alle sechs Zahlen, während er sie eingab. Wieder blinkte es grün, und die Tür schwang auf. Ein tiefer erleichterter Atemzug spannte den Rücken von Udos Anzug.
    »Jetzt bist du wieder in Sicherheit, und niemand kann dich mir wegnehmen«, flüsterte er dem Schmuckstück zu, bevor er die Tresortür schloss.
    Geräuschlos breitete der schwarze Vogel seine Flügel aus und schwang sich in die Luft.
    Udo drehte sich um und sperrte seine Bürotür wieder auf. Bedeutend freundlicher als noch vor ein paar Minuten rief er ins Vorzimmer:
    »Ich gehe jetzt ins Gericht. Und wenn ich zurückkomme, trinken wir ein Glas Champagner auf den gewonnenen Prozess.«
    Schmollend blickte Lena von ihrem Bildschirm auf und reichte ihm schweigend die Akte ›Henschek‹. Sie hatte ihm seinen schroffen Ton von vorhin noch nicht verziehen. »Und wenn du verlierst – Chef?«, fragte sie schnippisch.
    »Mäuschen«, erwiderte Udo feixend, »ich verliere nie, das weißt du doch!«
    Was sollte auch schiefgehen, dachte er bei sich. Die Hauptbelastungszeugin war mit Hilfe einiger »Freunde« des Angeklagten eingeschüchtert worden, und nicht einmal ihre Anwältin würde sie dazu überreden können, auszusagen. Bei zwei anderen Zeugen hatte Udo für eine angemessene Vergütung ihrer Aussagen zugunsten seines Mandanten gesorgt. Auch an dieser Stelle würde es keine Probleme geben, und Udo freute sich schon auf die satte Prämie, die ihm Holger, eine Größe im Nachtleben, danach schulterklopfend überreichen würde, weil Udo ihn mal wieder rausgehauen hatte.
    Er wollte schon nach seinem Mantel greifen, da fiel ihm das gekippte Fenster in seinem Büro ein, und er ging noch einmal zurück. Die Kanzlei befand sich zwar im sechsten Stock, aber sicher war sicher. Beim Schließen sah er einen weißen Klecks auf dem Fensterbrett. »Verdammte Tauben«, brummte Udo.
    Von ihm aus konnten all die gefiederten Biester an der Vogelgrippe sterben. Udo hatte Vögel noch nie leiden können. Aber seit diese schwarze Krähe oder was es auch immer gewesen sein mochte, ihn in seinem Arbeitszimmer angegriffen hatte, hasste er alles, was Federn trug. Trug dieses verdammte Vieh doch die Schuld, dass Emma Wiltenberg entkommen war.
    Er eilte aus seinem Büro und schwor sich, nach ihr zu suchen, sobald der Prozess heute vorbei war. Sie konnte nicht schon wieder spurlos verschwunden sein. Er hatte den Gedanken noch nicht zu Ende gedacht, da meldete sich sein Handy. Es war Frank. Fast meinte Udo, seinen alten Schulkumpel am jämmerlichen Klingeln zu erkennen.
    »Was gibt’s?«, schnauzte er in den Hörer.
    »Ich habe Spindler«, ertönte es am anderen Ende. Schlagartig war Udo hellwach. »Wo?«, fragte er knapp.
    »Ich habe mit einem Nachbarn von ihm gesprochen. Der Alte liegt im Johanniter-Krankenhaus. Herzinfarkt. Soll ich hin und ihn mir vorknöpfen?«, wollte Frank wissen.
    »Nicht nötig«, sagte Udo, und seine Lippen verzogen sich zu einem wölfischen Grinsen. »Der läuft uns nicht weg. Warte, bis ich vom Gericht zurück bin, und dann statten wir ihm beide einen Besuch ab«, wies er Frank an und legte in dessen irres Kichern hinein auf.
    »So, Emma«, murmelte er leise, »nach dem heutigen Tag bist du endgültig Geschichte, dafür werde ich sorgen.«

[home]
    Kapitel 21
    D er schwarze Rabe lag reglos am Boden. Seine Krallen waren gekrümmt und seine Flügel unnatürlich abgespreizt. Er gab keinen Laut von sich und schien auch nicht mehr zu atmen. Nur seine Augen standen offen und verrieten ihn. Halb belustigt, halb ärgerlich stupste ich ihn sanft mit meiner Fußspitze an.
    »Jonathan, hör auf mit dem Theater, du übertreibst!«, rief ich und musste trotz meiner Anspannung lachen.
    Der Vogel flatterte auf die Beine und schüttelte sich kurz, ehe er auf meine Schulter flog.
    »Jonathan will damit sagen, du siehst einfach zum Umfallen gut aus«, dolmetschte Lilly und musterte mich von oben bis unten. Sie hatte aus Caros Schrank ein dunkelblaues Etui-Kleid gemopst und erklärt: »Das hat Mama aufgehoben. Falls sie es jemals schafft, sich wieder in Größe 38 reinzuquetschen, hat sie gesagt.« Mit etwas Watte vorne in den Schuhen passten mir sogar ihre Pumps. Eine falsche Perlenkette und eine winzige Tasche, die Lilly »Clutch« nannte, vervollständigten mein Outfit. Lilly hatte mir die Haare zu einem schlichten, tiefen Pferdeschwanz gebunden und mich mehr oder minder sanft gezwungen, erneut zum roten Lippenstift zu greifen, wie damals beim Styling

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