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Die gestohlene Zeit

Die gestohlene Zeit

Titel: Die gestohlene Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heike Eva Schmidt
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waren, spürte meine Unruhe. Manchmal vergaß ich, dass wir unsere Gedanken und Gefühle lesen konnten, auch wenn einer von uns kein Mensch war. Der Rabe klapperte leise mit dem Schnabel und kniff mich liebevoll in einen meiner Wanderschuhe, die ich vorhin noch schnell herausgekramt hatte.
    »Ich habe nicht nur Angst um Lilly«, erklärte ich ihm leise. »Was, wenn wir Laurins Berg nicht mehr finden?«
    Der Rabe nickte ein paar Mal heftig mit dem Kopf und hüpfte auf meine Armlehne. »Ich kenne den Weg«, schien er mir damit sagen zu wollen. Trotzdem wuchs meine Unruhe von Sekunde zu Sekunde. »Aber wenn Laurin sich weigert, uns die drei Wünsche zu erfüllen, und mich stattdessen wieder gefangen nimmt? Ich könnte mich doch nie und nimmer gegen die Zwerge wehren, sie sind zu stark!«
    Gleichzeitig aber wurde mir klar: Ich hatte keine andere Wahl. Nicht nur Udo würde mich immer weiter verfolgen. Wenn ich nicht mein restliches Leben lang um Mitternacht zur Katze werden wollte, wobei ich nie mehr als eine kostbare Stunde in Menschengestalt mit Jonathan verbringen könnte, ehe er zum Raben wurde, musste ich das Risiko eingehen. Mir blieb nichts anderes übrig, als noch einmal zum Eingang von Laurins Felsenreich zurückzukehren. Ich hatte damals, bei meiner grausigen Ankunft in seinem steinernen Saal, mit eigenen Ohren gehört, wie er demjenigen die Erfüllung dreier Wünsche versprach, der ihm sein Schmuckstück zurückgab. Vielleicht war selbst ein Wesen wie Laurin an Versprechen gebunden, weil ihn sonst seine Zauberkräfte verlassen oder sich gegen ihn wenden würden? Wieder nickte der Vogel, und ich lehnte mich etwas beruhigter in den Sitz zurück.
    »Ich hoffe so sehr, dass alles gut wird, Jonathan«, flüsterte ich. Erst als ich in meiner Hosentasche kramte, weil ich die Stimme des Schaffners auf dem Gang hörte, der um die Fahrscheine bat, merkte ich, dass meine Hände vor Angst so kalt und feucht wie die Wände in der Felsenhöhle der Zwerge waren. Hoffentlich musste ich Laurins unterirdisches Reich nie wieder betreten. Auch das wäre Bestandteil der drei Wünsche, wenn ich ihm den Ring überreichen würde.
    ***
     
    »Niemand nimmt mir meinen Ring weg! Schon gar nicht diese Schlampe!«, fauchte Udo die verschüchterte Lilly an. Er hatte ihr den Lauf der Pistole zwischen die Rippen gepresst und sie gezwungen, langsam und unauffällig mit ihnen den Krankenhausflur entlang und zum Aufzug zu gehen. »Ein Laut, und ich knall dich ab«, hatte Udo gedroht, und Lilly war ihm und seinem schäbig gekleideten Begleiter starr vor Angst nach draußen gefolgt.
    Jetzt hockte sie auf dem Rücksitz eines großen, schwarzen Wagens. Udos Kumpel hatte die Pistole übernommen und sich neben sie gesetzt, während der dicke Anwalt sich hinters Steuer gequetscht hatte und den Zündschlüssel drehte. Mit einem bösartigen, tiefen Röhren erwachte der Motor erneut zum Leben. Kurz zuvor hatte Udo Lilly gezwungen, ihnen den Weg zu verraten, den Emma nehmen würde. Erst hatte Lilly behauptet, es nicht zu wissen, aber nachdem Udo auf einen verlassenen Parkplatz abgebogen war und Anstalten gemacht hatte, Lilly eine Kugel ins Knie zu jagen, war sie in Tränen ausgebrochen und hatte panisch schluchzend nur ein Wort hervorgestoßen – »Karerpass«.
    ***
     
    Nach der Zugfahrt, die eine Ewigkeit zu dauern schien, kam ich mitsamt dem Raben schließlich in Bozen an. Eine halbe Stunde, viele Fragen und einen Verzweiflungsausbruch, weil ich die verdammte Haltestelle nicht finden konnte, später saß ich im Linienbus, der mich und Jonathan in das Alpendorf Welschnofen bringen würde.
    Die vierzigminütige Fahrt verlief schweigend, denn ich hatte den Vogel dazu überredet, sich in meinem Rucksack zu verstecken, damit unser Plan nicht am Ende noch an dem alpenländischen Sturschädel eines Busfahrers scheiterte, der sich vielleicht weigern würde, einen jungen Mann in Rabengestalt zu transportieren. Übergewichtige Dackel hingegen waren erlaubt, denn in dem Doppelsitz mir gegenüber saß eine Dame in höherer Alters- und Gewichtsklasse, zu deren Füßen ihr ebenso unförmiger Hund hockte, der mich die ganze Fahrt über mit hochgezogenen Lefzen anknurrte.
    »Der tut nichts, gell, Wasti?«, zwitscherte die Frau, was den Köter veranlasste, die Oberlippe noch ein Stück höher zu ziehen. Ein Tropfen Geifer löste sich aus seinem Maul und klatschte auf den Boden. Ich war sowieso schon nervös, und die knurrende Bratwurst vor mir machte die Sache nicht

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