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Die gestohlene Zeit

Die gestohlene Zeit

Titel: Die gestohlene Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heike Eva Schmidt
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vorgestrecktem Kopf wie ein angriffslustiges Frettchen. »Sind wir nicht schick genug für einen Krankenbesuch, oder was haben Sie für ein Problem?«
    »Sind Sie ein Angehöriger?«, raunzte die Krankenschwester und nahm Frank in Augenschein.
    »Er nicht, aber ich. Theo war mein … Großonkel«, schaltete sich Udo, dem ein Gedanke gekommen war, blitzschnell ein. »Udo von Hassell, mein Name. Rechtsanwalt. Sehr erfreut.«
    Die Schwester musterte seinen teueren Maßanzug samt den handgenähten Pferdelederschuhen, und ihre Miene wurde etwas freundlicher.
    »Ihr Großonkel ist vor etwa zwei Stunden verstorben. Es tut mir leid«, sagte sie. »Wenn Sie warten möchten, können Sie den Toten noch einmal sehen und sich von ihm verabschieden. Momentan wird er gewaschen.«
    Udo zuckte zusammen. Nein danke, dachte er schaudernd. Der Tod war nichts, womit er sich gerne beschäftigte. Vor allem verdrängte er die Vorstellung, dass auch er nicht unsterblich war. Udo von Hassell wollte gerne an das Gegenteil glauben und sich für eine Ausnahme halten. Solange er im Besitz des Rings gewesen war, hatte er tatsächlich das Gefühl gehabt, vom Sensenmann verschont zu bleiben.
    Dieser Gedanke brachte ihn wieder auf den eigentlichen Grund, weshalb er und Frank hier waren. Dummerweise war der Alte tot, so dass sie aus ihm Emmas Aufenthaltsort sicher nicht mehr herausbringen würden.
    »Verdammt«, presste Udo hervor, »jetzt war alles umsonst!«
    »Herr Spindler hat sicher gewusst, dass Sie an ihn denken. Gerade, wenn die Seele den Körper verlässt, spüren die Menschen oft noch die Liebe, die sie umgibt«, sagte die Schwester salbungsvoll. Udo glotzte sie an.
    »Das habe ich auch schon dem Mädchen gesagt, das auch zu Herrn Spindler wollte. Sie war in Begleitung einer ehemaligen Studentin Ihres Großonkels, einer sehr hübschen, rothaarigen Frau«, plapperte die Schwester weiter. »Leider musste sie dringend weg. Aber das Mädchen ist noch da. Dort drüben sitzt sie«, sagte die Krankenschwester und wies mit dem Kopf den Gang hinunter.
    Udos und Franks Köpfe wandten sich gleichzeitig um. In etwa zehn Schritten Entfernung hockte ein Mädchen auf einem der scheußlich grünen Plastikstühle. Es sah klein und verheult aus und schenkte ihrer Umgebung keine Beachtung.
    Da war der Fisch, der freiwillig ins Netz des Anglers schwimmt, dachte Udo. Garantiert war das Emma, mit der sie gekommen war, und sicher wusste sie, wohin die rothaarige Schlampe so dringend gewollt hatte. Ein gemeines Grinsen machte sich auf seinem Gesicht breit, und er stieß Frank in die Seite.
    »Wir kümmern uns um sie«, sagte er mit der Stimme des Wolfes aus dem Märchen von den sieben Geißlein. Doch die Schwester schöpfte keinen Verdacht.
    »Das ist nett von Ihnen. Vielleicht können Sie die Kleine ein bisschen trösten. Ich glaube, sie nimmt sich den Tod des alten Herrn sehr zu Herzen«, gurrte die weißbekittelte Frau und entfernte sich mit quietschenden Gummisohlen in die andere Richtung.
    Udo wartete sicherheitshalber, bis sie außer Hörweite war. Dann zerrte er Frank zu der Sitzgruppe. Das blonde Mädchen schien sie nicht einmal zu bemerken. Es starrte auf das zusammengeknüllte Taschentuch in seinen Händen und schniefte leise. Mit einer knappen Kopfbewegung wies Udo seinen Kumpel an, sich links neben sie zu setzen. Dann ließ er sich auf den Stuhl rechts neben ihr fallen.
    »Ich glaube, wir haben eine gemeinsame Bekannte«, hörte Lilly einen Mann sagen. Sie hob den Kopf – und blickte direkt in die Mündung eines Revolvers.
    ***
     
    Unruhig rutschte ich auf dem abgewetzten und durchgesessenen Sitz im Zugabteil herum. Neben mir stand ein Rucksack, der Klamotten für Jonathan und etwas Proviant enthielt. Seit zehn Minuten waren wir unterwegs in Richtung Bozen, und ich wünschte, die Zeit würde ausnahmsweise einmal schneller vergehen. Das untätige Herumsitzen machte mich ganz kribbelig. Der Ring lag schwer in meiner Hosentasche, und sein Gewicht schien mich förmlich in das Polster zu pressen.
    Aber es war nicht der Schmuck, der mich bedrückte, ich machte mir Sorgen um Lilly. Zwar versuchte ich mir einzureden, sie wäre inzwischen wieder zu Hause und säße mit einem dicken Schmöker unter einem der Obstbäume im Garten, aber das mulmige Gefühl hatte sich hämisch neben mich auf den Sitz plaziert und wollte nicht weichen. Jonathan, der sich vorsichtshalber unter der Bank verkrochen hatte, weil ich mir nicht sicher war, ob Raben als Zuggäste erlaubt

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