Die gestohlene Zeit
hinzuzufügen: »Die mit den roten Haaren!«
»Emma Wiltenberg!«, jaulte Frank auf, bevor Udo noch reagieren konnte. »Dann war sie das also doch!«
Langsam wandte Udo den Kopf und starrte ihn an. »Was?«, fragte er leise.
»Ich wollte vorhin zu dir in die Kanzlei. Na ja, und als ich auf der Straße stehe, kommt auf einmal
sie
aus dem Haus. Also, das Mädchen sah zumindest aus wie Emma. Allerdings war sie …«, Frank stockte. »Also, sie sah noch genauso aus wie damals«, formulierte er unbeholfen.
Udo nickte. Er wusste, was sein ehemaliger Klassenkamerad meinte.
Unwillkürlich durchrieselte ihn ein kalter Angstschauer. Also war sie tatsächlich hier gewesen und hatte den Ring gefunden! Eine kalte Wut auf diese dumme Gans, die sich seine Assistentin schimpfte, packte Udo, und er beugte sich über Lenas Schreibtisch.
»Sind Sie wahnsinnig geworden, eine Fremde in mein Büro zu lassen?«, sagte er, und seine Stimme klang gefährlich leise. Normalerweise hätte Lena jetzt zu Stein erstarren und zu stottern beginnen müssen. Stattdessen warf sie den Kopf in den Nacken und schnaubte geringschätzig.
»Erstens war sie nur hier im Vorzimmer und nicht in Ihrem Büro«, entgegnete sie, wobei sie ihn betont siezte. »Zweitens kannte die Rothaarige
Sie
offenbar ziemlich gut. Immerhin wusste sie, wie Ihre Frau und Ihre beiden Kinder heißen. Und drittens waren Sie es doch, die ihr ein Praktikum in der Kanzlei aufgeschwatzt haben«, fügte sie hinzu. »Aber sie ist vorhin einfach verschwunden, obwohl sie versprochen hatte, mir einen Kaffee mitzubringen. Arrogante Zicke!« Mit diesem abschließenden Urteil wandte sich Lena wieder ihrem Bildschirm zu und würdigte Udo keines Blickes mehr.
Der kratzte sich am Kopf. Dieses verdammte Miststück. Das hatte sie ja wirklich raffiniert angestellt. Dann aber stutzte er. Woher kannte Emma Linus’ und Karlas Namen? Und wieso wusste sie die Zahlenkombination seines Safes, der ihm erst kurz vor ihrem Erscheinen in die Kanzlei geliefert worden war? Doch so viel er auch grübelte, er konnte es sich nicht erklären.
»Udo?«, meldete sich Frank unvermittelt zu Wort.
»Was?«
»Wolltest du nicht zum Spinner, ich meine Spindler, ins Krankenhaus?«
»Scheiße«, sagte Udo gedehnt, doch er klang eher erfreut als gereizt. »Den Spinner habe ich total vergessen. Gut, dass du mich daran erinnerst, Frankie. Bist du also doch zu etwas zu gebrauchen.«
Der lächelte dümmlich. Jovial nahm Udo ihn am Arm und zog in mit sich in sein Büro. Dort sperrte er eine Schublade auf, und als er sich zu Frank umdrehte, sah der einen kleinen, schwarzen Revolver. Udo steckte ihn beiläufig in die Innentasche seines Sakkos. »Wir werden dem alten Herrn einen Besuch abstatten. Und ich wette, danach wissen wir, wo wir unsere verschollene Studentin finden …!«
***
Lilly und ich sahen den Arzt fassungslos an. »Aber … gestern war doch noch alles okay!«, stammelte Lilly schließlich. Ich brachte kein Wort heraus, sondern hatte den Blick starr auf den blütenweißen Kittel des Mannes geheftet, der uns mitfühlend ansah. »Dr. Weidmann« las ich, doch die Buchstaben ergaben keinen Sinn. Genauso wenig verstand ich, dass Theo Spindler tot sein sollte. Sein freundliches, von Falten durchzogenes Gesicht, seine beruhigende Stimme und all die Sätze, mit denen er sich immer so gewählt ausgedrückt hatte – nichts davon würden wir jemals wieder sehen oder hören. Mir war zumute, als wäre ein Stück Licht aus meinem Leben verschwunden.
»Wir sind eigentlich davon ausgegangen, er schafft es«, hörte ich die Stimme des Arztes wie aus weiter Ferne. »Aber sein Herz war sehr schwach. Wir haben getan, was wir konnten, nur leider …« Er verstummte hilflos. Ich hob den Kopf und sah dem Arzt ins Gesicht.
»Danke«, murmelte ich, während Lilly stumm neben mir stand und weinte. Ich legte ihr den Arm um die Schultern und drückte sie fest an mich.
»Mein Beileid«, murmelte der Arzt. »Wissen Sie, ob Herr Spindler Kinder hatte oder Verwandte? Wir müssten wegen der Formalitäten …« In dem Moment ging sein Pieper los. »Tut mir leid, ich muss los!«, sagte der Doktor hastig und verschwand mit wehendem weißen Kittel um die Ecke.
Ich zog Lilly auf einen der grünen Plastikstühle, die im Flur standen. Sie schluchzte, und nun liefen auch mir die Tränen aus den Augen.
»Ich hätte ihm so gerne geholfen«, flüsterte ich und dachte an die versteinerte Rose. Ein paar Stunden früher, und ich hätte
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