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Die gestohlene Zeit

Die gestohlene Zeit

Titel: Die gestohlene Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heike Eva Schmidt
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dem alten Herrn vielleicht noch ein paar Jahre schenken können, ehe die Blume zu grauem Granit erstarrte. Vielleicht ging es ihm schon längere Zeit schlecht. Doch statt sich zu schonen, war er ins Auto gestiegen, um mir und Jonathan zu helfen. Ein heftiges Schuldgefühl packte mich mit scharfen Zähnen und biss sich tief in mir fest. Da spürte ich eine zarte, warme Hand, die sich auf meine legte.
    »Du kannst nichts dafür, Emma«, sagte Lilly. In ihren Wimpern hingen noch Tränen, aber sie sah mich fest und sicher an.
    »Du hast Jonathan mit der Rose vor dem sicheren Tod gerettet. Damit hatte sie ihre Kraft verloren, aber das konntest du doch nicht ahnen! Spindler wäre sicher traurig, wenn er wüsste, wie schuldig du dich jetzt fühlst.«
    Ich holte schluchzend Atem. »Ich weiß ja, Lilly. Es ist nur … Er wird mir fehlen«, flüsterte ich, und erneut schoss mir das Wasser in die Augen. Außer ihm, Lilly und Jonathan hatte ich niemanden mehr. Wer weiß, wie Caro reagieren würde, wenn sie zurückkam. Vielleicht hatten siebenundzwanzig lange Jahre das Band zwischen uns zerschnitten, und wir waren uns fremd geworden? Immerhin war sie eine erwachsene Frau von achtundvierzig Jahren und ich eine Einundzwanzigjährige, die tief unten im Berg ein halbes Leben verpasst hatte. Die dunklen Gedanken legten sich wie zäher, schwarzer Ruß auf meine Seele und drohten mich zu ersticken.
    Bis Lilly mich sanft schüttelte. »Emma, du hast Jonathan und mich. Und wenn meine Ma nach Hause kommt, wird sie ausflippen vor Freude, dich zu sehen. Du bist nicht allein.« Sie nahm mich in den Arm und drückte mich fest an sich. Dann machte sie sich energisch los.
    »So – und jetzt schnappst du dir Jonathan. Ihr müsst mit dem Ring in die Berge aufbrechen. Hier …« Sie kramte in ihren Taschen und fischte ein paar blaue und braune Geldscheine heraus.
    »Lilly, nein!«, protestierte ich, aber sie sah mich mit einem wilden Blick an. Ihre Augen glänzten beinahe fiebrig, und sie drückte mir das Geld energisch in die Hand.
    »Nimm! Du musst mit dem Zug nach Bozen fahren und später vielleicht jemanden bezahlen, damit er dich und den Raben in die Berge mitnimmt. Du wirst die Kohle brauchen!«
    »Das kann ich nie wiedergutmachen, Lilly! Das ist dir klar, oder?«, murmelte ich erstickt und war schon wieder kurz davor zu heulen. Diesmal allerdings vor Rührung.
    »Mann, Emma! Finde diesen komischen Zwergenkaiser und sieh zu, dass zu ihn dazu bringst, den Fluch zu lösen. Du würdest mir einen großen Gefallen tun. Ich habe nämlich tatsächlich eine Katzenhaarallergie.«
    Trotz meiner Trauer um Spindler und der Angst, die ich vor einer erneuten Begegnung mit dem widerwärtigen Laurin hatte, musste ich lächeln.
    »Kommst du klar?«, fragte ich leise und drückte zum Abschied Lillys Hände.
    »Mach dir keine Sorgen. Übermorgen kommen Ma und mein Vater zurück. Bestimmt helfen sie mir mit dem ganzen formalen Kram. Herr Spindler hat mir im Auto erzählt, dass er keine Familie hat. Meine Mutter wird sicher alles in die Hand nehmen. Und wenn du und Jonathan zurück seid, können wir alle drei bei seiner Beerdigung dabei sein. Dann wird er von den Menschen verabschiedet, die er gernhatte«, sagte Lilly, und ich musste schlucken. Manchmal war die Kleine mit der großen Klappe schon ganz schön erwachsen.
    Eine letzte Umarmung, dann ging ich den Flur entlang und stieg in den Aufzug, der soeben hielt und ein paar schwatzende Krankenschwestern ausspuckte.
    Draußen wartete der Rabe auf einem der Bäume, die rund um die Klinik standen. Ich streichelte sein glänzendes Gefieder, während ich ihm die traurige Nachricht von Spindlers Tod überbrachte. Jonathan krächzte leise und ließ die Flügel hängen. Auf meiner Schulter sitzend, seinen Kopf an meinen geschmiegt, versuchte er mich über den Verlust eines Menschen hinwegzutrösten, der unser beider Leben nicht nur leichter, sondern auch reicher gemacht hatte. Doch wir hatten keine Zeit zu verlieren, also machte ich mich zusammen mit Jonathan auf den Weg.
    ***
     
    »Tut mir leid, Sie können da jetzt nicht rein.« Eine füllige, ältere Schwester hatte sich vor Udo und Frank aufgebaut und versperrte den Männern energisch den Zutritt zu Zimmer 320 . »Hören Sie mal, gute Frau, wir wollen nichts weiter als Theo Spindler besuchen und …«
    »Habe ich mich nicht klar ausgedrückt? Sie können jetzt nicht zu ihm.«
    »Und wieso nicht?«, mischte Frank sich ein und musterte die Schwester mit

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