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Die gestohlene Zeit

Die gestohlene Zeit

Titel: Die gestohlene Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heike Eva Schmidt
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verspürte ich nun doch einen Anflug von Mitgefühl mit dieser erbärmlichen Gestalt.
    Mit dem, was nun passierte, hatten aber weder ich noch Udo gerechnet. Frank richtete sich auf und schleuderte Udo unvermittelt eine Handvoll der trockenen, mit kleinen Steinchen durchsetzten Erde ins Gesicht. Der Anwalt brüllte auf und riss geblendet die Hände vors Gesicht. Mit ungeahnter Schnelligkeit schoss Frank auf ihn zu und versuchte erneut, ihm den Ring aus den Fingern zu winden. Udo riss sich los und wich blind zwei Schritte zurück. Doch direkt hinter seinem Rücken gähnte der Rand der Felsenschlucht, und er trat ins Leere. Seine massige Gestalt geriet ins Schwanken, er ruderte hilflos mit den Armen, um nicht zu fallen – doch vergeblich. Unaufhaltsam kippte er nach hinten und stürzte mit einem grauenhaften Schrei in die Tiefe. Unwillkürlich kniff ich die Augen zu, doch das Letzte, was ich noch sah, war ein funkelnder Gegenstand, der aus Udos sich öffnender Hand flog, während er in einem letzten Aufbegehren gegen sein Schicksal die Arme hochriss. Ein Blitzen von Gold, sekundenkurz wie eine Sternschnuppe gegen den blauen Himmel, dann fiel der Ring in die Felsenschlucht – dem Dieb hinterher, in dessen Besitz er fast dreißig Jahre lang gewesen war. Der Schmuck hatte Udo letztendlich doch kein Glück, sondern den Tod gebracht.
     
    »Neiiiiin!« Bei dem gutturalen Schrei, der mehr dem Laut eines verwundeten Tieres als einer menschlichen Stimme glich, zuckte ich zusammen und riss die Augen auf. Stolpernd rannte Frank zum Rand der Schlucht, in die Udo gestürzt war.
    »Er kann nicht … darf nicht fort sein!«, jammerte er und blickte hinunter. Ein Wimmern entrang sich seiner Kehle. Kein Wunder, hatte er doch soeben seinen einzigen Freund getötet, dachte ich.
    Frank spähte in die Tiefe und schrie: »Der Ring! Ich muss ihn haben!«
    Wie gründlich ich mich geirrt hatte! Er trauerte nicht um Udo. Wenn es um Macht und Geld ging, hörte die Freundschaft offenbar schnell auf.
    »Vergiss es, Frank«, sagte ich tonlos. »Der Ring ist verloren. Niemand wird ihn dort unten jemals finden.«
    Eine dunkle Wolke der Mutlosigkeit legte sich über meine Seele und löschte den letzten Funken Hoffnung, den ich bisher noch gehabt hatte. Es war alles umsonst gewesen. Jonathan und ich hatten Laurins gestohlenen Schatz gefunden und ihn hierher gebracht, ehe Udo ihn uns wieder abgejagt und schließlich mit in sein felsiges Grab genommen hatte. Nun würden wir Laurin seine Kostbarkeit nicht mehr bringen können und nie von seinem Fluch erlöst werden.
    Frank fuhr zu mir herum, und ich wich unwillkürlich einen Schritt zurück. Seine Augen waren rot und lagen tief in den Höhlen. Ein seltsames Glühen schien von den Pupillen auszugehen, und um seinen Mund spielte erneut dieses seltsame lippenlose Grinsen, das mich schaudern ließ.
    »Emma«, sagte er langsam, als würde er gerade aus einem Traum erwachen. Er starrte mich an, und allmählich erschien ein feindseliger Ausdruck auf seinem Gesicht. »Du bist schuld!«, schrie er auf einmal, »wärst du nicht gewesen, wäre Udo noch am Leben!«
    Schwankend richtete er sich auf und kam auf mich zu. Unwillkürlich musste ich an die Untoten in dem Video zu Michael Jacksons Hit »Thriller« denken. Frank glich ihnen auf grauenhafte Weise, nur dass es kein Film war. Seine Schritte wirkten ferngesteuert, und seine Gesicht war eine verzerrte Maske des Hasses.
    »Das wirst du büßen … ich bringe dich um!«, gurgelte er.
    Ich wirbelte herum und rannte los. Hinter mir hörte ich den dumpfen Aufprall seiner Füße auf dem Gras, als er mir nachsetzte. Ich war völlig erschöpft, trotzdem versuchte ich, noch schneller zu laufen.
    Auf einmal ertönte hinter mir ein gellender Schrei. Ich wirbelte herum und sah Frank gekrümmt dastehen, die unverletzte Hand vors Gesicht geschlagen. Ein schwarzer Vogel flatterte mit zornigem Krächzen vor seinem Gesicht – Jonathan!
    Franks schrille Schreie hallten in der stillen Sommerluft, und jetzt sah ich auch das Blut, das zwischen seinen Fingern hervorrann.
    »Verdammtes Biest, du hast mir mein Auge ausgehackt«, heulte er auf, und ich schlug entsetzt die Hand vor den Mund.
    »Du brauchst einen Arzt«, schrie ich, doch er schien mich nicht zu hören. Er verstummte, und für eine kurze Zeit senkte sich eine bleierne Stille über die Landschaft, in der die Berge wie stumme, mahnende Zeugen jede Bewegung zu beobachten schienen. Langsam nahm Frank die Hand vom

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