Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die gestohlene Zeit

Die gestohlene Zeit

Titel: Die gestohlene Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heike Eva Schmidt
Vom Netzwerk:
Wahrscheinlich würde seine Leiche nie geborgen werden, und er würde für alle Zeit dort unten liegen, ohne jemals Frieden zu finden, bis schließlich selbst seine Knochen zu Staub zerfallen wären.
     
    Der Rabe war wieder aufgeflogen und kreiste ein Stück entfernt über den Felsen. Ich nahm an, jetzt, da wir den Ring wiederhatten, würde er mich drängen, zu Laurins Felsenreich aufzubrechen, aber ich konnte nicht gehen, ohne zu wissen, was mit Lilly war. Erst mussten wir sie suchen und dafür sorgen, dass sie unversehrt nach Hause kam. Notfalls mussten Jonathan und ich unser Vorhaben, den Rosengarten zu erklimmen, eben noch einen Tag verschieben. Gerade hob ich den Ring auf, um ihn sicher in meiner Hosentasche zu verstauen, da hörte ich meinen Namen. Ich wirbelte herum. Lilly kam auf mich zugerannt, knapp über ihrem Kopf segelte ein triumphierend krächzender Jonathan.
    Ich brachte keinen Ton heraus, sondern breitete nur stumm die Arme aus, und sie ließ sich an meine Brust fallen. Jetzt heulten wir beide, diesmal aber vor Freude und Erleichterung.
    »Du hast doch nicht geglaubt, ich würde mich echt vom Acker machen, oder?«, sagte sie halb lachend, halb weinend, nachdem wir uns etwas beruhigt hatten.
    Ich sah sie streng an, doch sie zuckte nur mit den Schultern und schnitt ihre berühmte Lilly-Grimasse, ein sicheres Zeichen dafür, dass sie sich mal wieder allen Anordnungen widersetzt hatte.
    »Also gut, in Wahrheit hatte ich total Schiss und wusste nicht, wohin ich abhauen sollte. Ich dachte, diese fiesen Typen würden mir jeden Moment nachkommen und mich doch noch erschießen. Also habe ich mich erst mal in einiger Entfernung zwischen ein paar Felsbrocken versteckt und gehofft, du würdest es doch irgendwie schaffen, abzuhauen oder Udo abzuschütteln. Und dann kam auf einmal Jonathan angeflogen. Er hat mich entdeckt, und da wusste ich, du lebst«, sprudelte Lilly in Rekordgeschwindigkeit hervor.
    In Kurzform erzählte ich ihr, was mit Udo und Frank passiert war. »Geschieht ihnen recht«, rief Lilly. »Dieser Mistkerl hätte mich und dich eiskalt umgelegt! Jetzt kann er uns wenigstens nichts mehr anhaben!« Ihre Augen blitzten vor Zorn.
    Dann jedoch stockte sie unvermittelt und blickte mich ernst an. »Mensch, Emma, du hast dein Leben für mich riskiert. Du warst so mutig und wolltest mich retten … das w-werde ich dir nie vergessen, weißt du?«, schniefte sie und brach erneut in Tränen aus.
    »Schon gut, das war doch selbstverständlich …«, fing ich an, ehe ich auch wieder losheulte.
    Ein mahnender Krächzlaut machte unseren Tränen jedoch ein Ende. Wir blickten zu dem Raben, der auf der Erde hockte. Jonathan hatte den Kopf theatralisch unter einen seiner ausgebreiteten Flügel gesteckt, und bei diesem Anblick mussten wir beide lachen.
    »Okay, auf zum Zwerg im Berg«, rief Lilly unternehmungslustig und war schon wieder ganz die Alte.
    »Oh nein, meine Liebe, kommt nicht in Frage«, bremste ich sie energisch. »Erst bringen wir dich sicher nach Hause, und dann suchen wir Laurin. Ich gehe kein Risiko mehr ein, dass dir noch mal was passiert!« Energisch fasste ich Lilly an den Schultern und drehte sie in Richtung Abstieg.
    Unwillig entwand sie sich meinem Griff.
    »Emma, sei nicht blöd! Jetzt seid ihr schon so weit gekommen, du kannst jetzt nicht kneifen!«, beschwor sie mich.
    »Ich komme auch bestimmt nicht mit zu dieser Höhle oder was immer ins Zwergenreich führt, sondern bleibe zurück und verstecke mich, versprochen! Aber ihr müsst das jetzt durchziehen! Wer weiß, ob dieser Frank uns nicht am Parkplatz auflauert und doch noch ein krummes Ding versucht. Oder das Wetter schlägt morgen um. Du musst den Fluch lösen, und zwar jetzt! Wer weiß, ob du später noch die Gelegenheit hast«, argumentierte sie vernünftig.
    Ich dachte kurz nach. Obwohl es mir widerstrebte, Lilly unter Umständen einer erneuten Gefahr auszusetzen, würde sie ihren Dickkopf sowieso durchsetzen. Und wenn es uns gelänge, Laurin heute noch zu finden und den Ring gegen unsere Erlösung einzutauschen, wäre immerhin unser größtes Problem, der Fluch, schon einmal behoben. Ich sah zu Jonathan, der seinen gefiederten Kopf wiegte, ehe er nickte. Auch Lilly sah es und trat erwartungsvoll von einem Bein aufs andere.
    »Abgemacht«, beschloss ich. »Aber du hältst dich an dein Versprechen und gehst in Deckung, ich meine es ernst! Laurin ist ebenso gefährlich wie gierig, und du wirst mir schwören, dass du dich nicht blicken

Weitere Kostenlose Bücher