Die gestohlene Zeit
Gesicht, und jetzt war ich es, die aufschrie: Auf der rechten Gesichtshälfte klaffte ein blutiges Loch, das mich trotzdem anzustarren schien.
Mit einem blutverschmierten Finger deutete er zitternd auf mich. »Warum musstest du nach so vielen Jahren wieder auftauchen?«, jammerte er. »Das ist alles deine Schuld!«
»Du bist verrückt, Frank«, entgegnete ich so ruhig wie möglich. »Schon damals hast du in Kauf genommen, dass ich in den Bergen sterben würde. Und jetzt hast du sogar deinen Freund angegriffen und ihn in den Abgrund gestoßen. Du bist schuld an seinem Tod!«
Er gab ein wütendes Zischen von sich und machte einen drohenden Schritt auf mich zu. Doch schon war der Rabe zur Stelle. Er kreischte drohend und zwang ihn mit vorgestreckten Klauen und wilden Flügelschlägen, stehen zu bleiben. Blut und klare Flüssigkeit liefen Frank über die Wange, doch er schien keinen Schmerz zu fühlen.
»Wärst du nur vor dreißig Jahren verreckt, Miststück«, fauchte er mich an. »Es hat dich sowieso keiner vermisst!«
»Doch«, antwortete ich ruhig. »Meine beste Freundin. Sie hat nie geglaubt, dass ich mich einfach so in den Bergen verirrt hatte. Und jetzt werden alle die Wahrheit erfahren. Nämlich dass du ein feiger Mörder bist!«, schleuderte ich ihm entgegen.
Alle Wut wich schlagartig aus seinem entstellten Gesicht. Sein Mund verzerrte sich zu einem Schrei voller Zorn und Qual, doch kein Laut drang hervor.
Dann drehte er sich jäh um und stürzte davon. Panik und Schuldgefühle schienen ihm fast übermenschliche Kräfte zu verleihen, denn noch ehe ich darüber nachdenken konnte, ob ich ihn zurückhalten sollte, verlor sich seine Gestalt bereits zwischen ein paar Findlingen.
Jetzt sackten mir wirklich die Beine weg, und ich sank kraftlos in die Hocke. Ich war noch einmal dem Tod entkommen, aber der Alptraum war noch nicht vorbei und würde auch niemals enden. Der Ring war verloren, und mir blieb nichts anderes übrig, als umzukehren und mich mit meinem und Jonathans Schicksal abzufinden, das uns jeweils am Tag und in der Nacht nur eine einzige kurze Stunde schenken würde, in der wir beide Menschen waren. Die restliche Zeit wäre es unser Schicksal, den anderen in Tiergestalt zu begleiten. Ein gemeinsames Leben war mit dem Verlust des Rings in weite Ferne gerückt, und meine Pläne für die Zukunft waren zu toter, grauer Asche geworden. Am Schluss hatte Udo also doch noch gewonnen.
Ich fing an zu weinen. Trauer und Verzweiflung, die ausgestandene Angst und das Wissen, dass alles vergebens gewesen war, brachen sich Bahn, und die Tränen strömten mir nur so übers Gesicht.
Ein leises Knirschen und Glucksen neben meinem Ohr und das federleichte Gewicht auf meiner Schulter sagten mir, dass Jonathan hier war und mich trösten wollte.
»Ach, Jonathan, nun sind wir so weit gekommen, und es hat alles nichts genützt. Der Ring ist weg, und wir beide werden nie wirklich zusammen sein können«, schluchzte ich und vergrub das Gesicht in meiner Armbeuge. Der Rabe krächzte und trippelte beharrlich auf meinem Oberarm auf und ab.
»Ich weiß, du willst mich aufmuntern. Lieb von dir, aber ich bin jetzt echt nicht in der Stimmung … aua!«
Ich beendete meine Klage mit einem empörten Aufschrei, denn der Vogel hatte mich energisch ins Ohr gezwickt.
»Bist du verrückt?«, beschwerte ich mich und wischte mir über die Augen, um ihn mit einem strafenden Blick zu bedenken. Da sah ich durch den Tränenschleier etwas in seinem Schnabel funkeln. Hastig wischte ich mir mit beiden Händen die Tränen weg, und tatsächlich – Laurins Ring! Mit einem zufriedenen Laut ließ der schwarze Vogel den Schmuck vor meine Füße fallen.
»Jonathan!«, schrie ich beglückt. »Du hast ihn tatsächlich dort unten zwischen den Felsen gefunden!« Der Rabe nickte eifrig mit dem Kopf.
Ein zweiter Gedanke schoss mir durch den Kopf. »Was ist mit Udo – ist er …?«
Ich musste meine Frage gar nicht beenden. Wieder nickte mein gefiederter Helfer, diesmal jedoch verhalten. Für einen Augenblick hatte ich das Bild des Anwalts vor Augen, der mit gebrochenem Genick und verdrehten Gliedern wie eine weggeworfene Puppe halb begraben unter dem Felsgeröll tief unten am Fuß der Schlucht lag. Ich schloss die Augen und atmete tief durch, um das Gefühl der Übelkeit zu vertreiben, das sich in meinem Magen breitmachte.
Udo hatte vielleicht bekommen, was er verdiente, aber ein solches Ende hätte ich nicht einmal ihm gewünscht.
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