Die gestohlene Zeit
»Campino würden mich steinigen, wenn er wüsste, was ich aus seinem Lied gemacht habe!«
»Wer?«, fragte Jonathan. Da war sie wieder, seine Begriffsstutzigkeit. Doch dann erinnerte mich, was er in der Zwergenhöhle über sein Zuhause erwähnt hatte. Wer mit einer Köchin aufwuchs, hörte nicht die Toten Hosen. Wahrscheinlich führten seine Eltern so einen Intellektuellen-Haushalt, in dem zum Frühstück die »Moldau« von Smetana lief und abends Mozarts »Kleine Nachtmusik« aus der dezent im Wandschrank verborgenen Stereoanlage perlte.
»Wie genau hast du dich eigentlich in den Rosengarten verirrt?«, lenkte ich ab.
Jonathan seufzte. »Das ist keine schöne Geschichte«, wollte er abwiegeln, aber ich war neugierig geworden.
»Ich würde sie trotzdem gerne hören«, bohrte ich.
Er sah auf den Boden und rupfte etwas von dem trockenen Gras ab. Schließlich hob er den Kopf. »Erinnerst du dich, als ich dir sagte, ich könne verstehen, dass du nicht gegen deinen Willen verheiratet werden willst?« Ich nickte.
»Nun, so ähnlich erging es mir, kurz bevor ich von den Zwergen gefangen genommen wurde«, gab er zu.
Ich starrte ihn wohl ziemlich belemmert an, denn Jonathan lächelte bitter, ehe er fortfuhr.
»Mein Vater ist ein sehr wohlhabender und einflussreicher Mann. Er genießt hohes Ansehen, und es gibt viele Mütter, die mich als gute Partie für ihre Töchter sehen. Aber mein Vater hat sorgfältig erwogen, welche Verbindung ihm am meisten an Macht und Wohlstand einbringen würde. Seine Wahl fiel ausgerechnet auf Wilhelmine …«
Was für ein Name, dachte ich. Kinder, die von ihren Eltern so getauft wurden, mussten ja bösartig werden. Udo von Hassell hätte sicher seine helle Freude gehabt, jemanden dieses Namens so oft durch den Kakao zu ziehen, bis wenigstens eine Träne geflossen wäre.
»Sie war das grässlichste Mädchen im ganzen Landstrich«, fuhr Jonathan fort. »Eitel, herrschsüchtig, dumm …« Er presste die Lippen zusammen und schaute grimmig über die Gipfel zum Horizont, als lauere dort Wilhelmine-die-Fürchterliche mit dem Nudelholz.
Ungläubig schüttelte ich den Kopf. Ich hatte immer gedacht, arrangierte Ehen wären seit dem 18 . Jahrhundert ausgestorben. Aber offenbar gab es bei den Reichen und Schönen doch die eine oder andere Ausnahme.
»Hört sich ja fast so an, als wärst du der Schwester von Marie Antoinette versprochen gewesen«, sagte ich im kläglichen Versuch zu scherzen. Jonathan sah mich an. »Sie tat jedenfalls so, auch wenn sie von niederem Stande war«, antwortete er ernsthaft.
Ich musste lachen. Manchmal konnte er wirklich witzig sein. Doch er musterte mich mit gerunzelter Stirn.
»Der war echt gut«, sagte ich anerkennend.
Er zog die Stirn in Falten. »Ich fürchte, ich kann dir gerade nicht ganz folgen«, sagte er vorwurfsvoll. Meine Güte, dachte ich, Jonathan konnte offenbar manchmal eine ganz schöne Diva sein. Hätte ich mich am Ende gewählter ausdrücken sollen?
»Du bist komisch, im Sinne von lustig«, erläuterte ich.
»Du bist auch komisch – im Sinne von merkwürdig«, stellte er fest, und ich schnappte nach Luft. Sollte einer aus ihm schlau werden! Erst überschüttete er mich mit Komplimenten, und gerade als er anfing, mir zu gefallen, würgte er mir einen dummen Spruch rein! Meine Enttäuschung ließ mich ziemlich sauer auf Jonathan werden, und ich funkelte ihn an.
»Also entschuldige mal, der seltsame Vogel von uns beiden bist ja wohl du«, gab ich hitzig zurück. »Ich meine, erst redest du die ganze Zeit ziemlich gestelzt daher, und dann kommst du mir auch noch mit der Story von einer arrangierten Heirat mit einer Adligen!«
Jonathans blaue Augen verengten sich, obwohl seine Stimme beherrscht klang. »Liebe Emma, ich will dir ja nicht zu nahe treten, aber du scheinst von Adel nicht sehr viel zu wissen. Für eine Frau führst du ein ziemlich loses Mundwerk, und weder deine Kleidung noch dein Gebaren ist angemessen«, konterte er. »Immerhin trägst du –
Hosen!
«
Das letzte Wort betonte er, als sei es etwas Unanständiges und ich hätte eine Klosterschule mit einem FKK -Strand verwechselt.
»Sag mal, ich glaub, du spinnst«, rief ich aufgebracht. »Wir leben im zwanzigsten Jahrhundert, und du kommst mir mit einem Frauenbild von anno dazumal! Bist du die Reinkarnation von Papst Sixtus dem Fünften oder was?!«
Jonathan starrte mich an. »Sag das noch einmal«, bat er mich nach einigen Sekunden des Schweigens schließlich mit heiserer
Weitere Kostenlose Bücher