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Die gestohlene Zeit

Die gestohlene Zeit

Titel: Die gestohlene Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heike Eva Schmidt
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verwundert, »sie sind verschwunden!«
    »Okay, her mit deinem Fuß«, kommandierte ich nicht sehr gewählt, doch er streckte gehorsam sein Bein aus. Ich strich mit dem Blütenkopf erst über den einen, dann den andern Fuß, und innerhalb einer Minute sah es aus, als hätte sich Jonathan gerade eben die Schuhe ausgezogen, so unversehrt waren seine Füße.
    »Diese Rose ist ja der Hammer«, rief ich. »Wenn ich das gewusst hätte, dann hätte ich gleich einen ganzen Strauß davon gepflückt!«
    Prüfend musterte ich die Blume. Sie sah etwas welk an den Rändern aus, ansonsten unterschied sie sich jedoch kaum von einer normalen Rose. Nur wir wussten, welche Kräfte sie in ihrem Inneren barg.
    »Es ist Laurins Zauber«, erwiderte Jonathan, und ich konnte nicht sagen, ob er erfreut oder besorgt klang. »Zudem haben wir damit die Schwierigkeit des Abstiegs noch nicht gelöst. Ich kann nur weitergehen, mir die Füße blutig laufen, und du heilst sie dann erneut. So ginge es weiter, bis wir im Tal sind«, gab er zu bedenken.
    »Du wirst stundenlang Schmerzen haben«, warf ich ein. »Das ist auch keine Lösung!« Jonathan sah mich nur wortlos an und hob etwas die Schultern.
    Gerade als ich ihm vorschlagen wollte, doch hierzubleiben, während ich mich an den Abstieg wagte, sah ich am benachbarten Gipfel drei Silhouetten, die sich langsam bergab bewegten. Für Zwerge waren sie eindeutig zu groß, das konnte ich sogar von hier aus erkennen. Ich stupste Jonathan an und deutete auf die Kleingruppe. »Die kommen auf uns zu«, rief ich aufgeregt. »Vielleicht können sie uns helfen!«
    Mir war zwar noch nicht klar, wie diese Hilfe aussah, aber unter Umständen hatten die Wanderer auf einer Hütte übernachtet und einer von ihnen hatte zumindest ein paar dicke Socken oder sogar Hüttenschuhe, die Jonathans Füße notdürftig schützen würden. Zwar konnte ich mir nicht so recht vorstellen, wie Jonathan in diesen handgefilzten Ökotretern bergab spazierte, aber er brauchte etwas für seine bloßen Füße, egal wie komisch er damit aussehen würde.
    »Diese Leute werden noch einige Zeit brauchen, bis sie uns erreichen«, sagte Jonathan nüchtern.
    »Das Risiko müssen wir eingehen. Laurin ist hinüber. Der wird es nicht schaffen, uns zu erwischen«, behauptete ich, obwohl ich mir dessen nicht so sicher war. Der gerötete Fleck auf meiner Schulter brannte und pochte immer noch. Seltsamerweise hörten die Schmerzen auch nicht auf, als ich meine Haut mit der Rose berührte. Aber ich verdrängte die Frage nach dem Warum und das mulmige Gefühl, das sich in mir breitzumachen drohte. Stattdessen machten wir es uns bei einem Felsblock bequem. Laurins Rose legte ich behutsam neben mich ins Gras. Es blieb uns sowieso nichts anderes übrig, wir mussten warten, bis die Bergsteiger uns erreichten, sonst würden wir uns am Ende hilflos im Gebirge verirren. Weder hatten wir Proviant, noch besaß Jonathan die erforderliche Ausrüstung für einen langen Marsch, und ich konnte nicht seine immer wieder blutig gelaufenen Füße mit der Zauberrose heilen. Er sah mich ernst an. »Ich danke dir, Emma. Du hast mich gerettet«, sagte er.
    »Nicht der Rede wert«, murmelte ich. »Ich bin ja nur durch Zufall auf die Heilkräfte der Rose gestoßen.«
    Jonathan setzte zu einer Erwiderung an, dann stockte er und wand sich etwas. War er am Ende verlegen? Ich sah ihn fragend an, aber ich musste eine Weile warten, bevor er wieder zu reden anfing. »Ich meine nicht meine zerschundenen Füße«, gab er schließlich zu. »Wenn du nicht gewesen wärst, hätte ich wahrscheinlich bis zu meinem Tod in Laurins Reich geschmachtet.«
    Er legte seine Hand für eine Sekunde auf meine und drückte sie, ehe er sie wieder wegzog.
    »Ach, hm, na ja«, nuschelte ich, plötzlich verlegen. Ich hätte seine Hand gerne noch länger auf meiner gespürt. Sie war sanft und fest zugleich, und die Berührung fühlte sich einfach gut an. Energisch räusperte ich mich. »Wenn ich nicht gewesen wäre, hättest du schließlich das Rätsel der Zwerge gelöst und wärst ganz lässig rausspaziert …«
    »Ich bereue es nicht, geblieben zu sein«, sagte Jonathan und blickte mich einen langen Atemzug an, bevor ein schelmisches Grinsen zwei Grübchen in seine Wangen zauberte. »Um nichts in der Welt hätte ich deine Gesangseinlage bei den Zwergen versäumen wollen!«
    Beschämt erinnerte ich mich an mein Gegröle. »Das war eine reine Verzweiflungstat«, wehrte ich mich, musste aber dann auch lachen.

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