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Die gestohlene Zeit

Die gestohlene Zeit

Titel: Die gestohlene Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heike Eva Schmidt
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Stimme.
    »Papst Sixtus der Fünfte!«, trotzte ich. Von dem wusste ich nämlich aus meinen Geschichtsbüchern, wie sittenstreng er um 1585 herum gewesen war.
    »Nein, du sagtest etwas vom zwanzigsten Jahrhundert, was meinst du damit?«, präzisierte er, und in seiner Stimme war ein drängender und zugleich angstvoller Ton, den ich nicht deuten konnte, daher schwieg ich verwirrt.
    Jonathan beugte sich zu mir und sagte fast flehend:
    »Du hast doch in der Zwergenküche davon gesprochen, dass wir Juli ’ 87 schrieben, erinnerst du dich?«
    »Klar,
19
87 «, sagte ich und dachte, ob Jonathan in der felsigen Unterwelt wirklich nur seine Schuhe und nicht auch ein paar Gehirnzellen verloren hatte.
    Als ich ihm ins Gesicht sah, erschrak ich jedoch. Er war noch eine Spur blasser geworden, und seine Augen waren nicht mehr blau, sondern fast schwarz.
    »Du scherzt«, presste er hervor und sah mich fast flehend an.
    »Nein, ehrlich nicht, warum sollte ich?«, fragte ich verwirrt. »Ich bin Studentin und im Juli 1987 als Betreuerin einer zwölften Klasse auf eine Bergtour mitgegangen, und dabei haben mich die Zwerge entführt.«
    Doch Jonathan sah mich nun beinahe feindselig an. »Was habe ich dir getan, dass du mich so zum Narren hältst, Emma? Ich wollte dir helfen, dem Zwergenkönig zu entkommen. Ich dachte …« Er stockte kurz, »ich dachte, du magst mich«, fuhr er kaum hörbar fort.
    Ich schüttelte nur den Kopf und fragte mich, ob Jonathan vielleicht völlig übergeschnappt war – genau das, was er mir vorwarf. Offenbar konnte er nicht glauben, dass er tatsächlich nur einen Monat der Gefangene Laurins gewesen war. Hatte er nicht selbst gesagt, es sei ihm wie Jahre vorgekommen? Aber deswegen brauchte er mich nicht so anzugehen, dachte ich.
    Genervt griff ich in meine Hosentasche und zog den Ausweis für die Jugendherberge hervor, der für die Dauer des Kursausflugs galt. Eine Münze fiel mit heraus, und Jonathan griff nach einem glänzenden Zweimarkstück. »Bundesrepublik Deutschland«, las er stockend. Dann blickte er hoch. »Was ist das?«
    »Ähm, Geld?«, erwiderte ich und erwog, vielleicht doch lieber alleine ins Tal zu wandern statt mit diesem wirklich seltsamen jungen Mann. Jetzt griff er nach meinem Jugendherbergsausweis und wurde beim Lesen wenn möglich noch bleicher. »Tatsächlich. Juli 1987 «, murmelte er heiser.
    »Was ist daran so seltsam? Du hast doch gesagt, deine Gefangenschaft im Zwergenreich hat kurz zuvor begonnen, im Juni ’ 87 ?«
    Jonathan gab keine Antwort. Er hatte, während ich redete, die Hände vors Gesicht geschlagen und atmete nun dreimal tief ein und aus, ehe er den Kopf hob und mir ins Gesicht sah. »Ja«, sagte er. »
Siebzehnhundert
siebenundachtzig!«
    Es war ein Schlag in die Magengrube, der mich nach Luft schnappen ließ. »Bist du dir da ganz sicher?«, fragte ich schließlich.
    Jonathan nickte stumm. »Ich bin 1767 , fünf Jahre nach Ende des Siebenjährigen Krieges unter dem Preußenkönig Friedrich  II ., zur Welt gekommen«, bekräftigte er. »In Frankreich herrschte bei meiner Geburt noch Ludwig der Fünfzehnte, in Russland hatte Katharina die Große seit fünf Jahren die Zarenkrone an sich gerissen.«
    Meine erste Reaktion war Ungläubigkeit. Dann aber fiel mein Blick auf seine Kleidung. Die Kniehose, das Hemd mit den bauschigen Ärmeln und das Halstuch waren die typische Mode im 18 . Jahrhundert gewesen. Dazu noch seine gewählte Ausdrucksweise … Wie Zahnräder griff nun alles ineinander. Und ein Blick in sein Gesicht überzeugte mich endgültig davon, dass er die Wahrheit sagte. Welchen Grund hätte er, zu lügen?
    »Du warst zweihundert Jahre da unten?«, rief ich und hörte selbst, wie dünn meine Stimme klang. Ich war völlig verwirrt. »Aber … Wieso bist du dann nicht gestorben?«, fragte ich ratlos. »Kein Mensch wird normalerweise so alt!«
    Dann erinnerte ich mich auf einmal daran, was Herr Spindler vor wenigen Tagen bei unserem Ausflug vermutet hatte: »Vielleicht altern die Menschen im Zwergenreich schneller.« So viel also zu Spindlers Theorie, dachte ich und war erleichtert, dass sie nicht stimmte, sonst säße jetzt ein Greis statt des jungen Jonathan vor mir.
    Er schüttelte langsam den Kopf. »Laurins Magie?«, fragte er matt. »Ich habe einmal gehört, wie seine Untertanen ängstlich über die übernatürlichen Kräfte ihres Herrn flüsterten. Und erinnere dich an die Feuerkugel, die er uns hinterhergeschickt hat!«
    Jonathan stockte. Er sah

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