Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die gestohlene Zeit

Die gestohlene Zeit

Titel: Die gestohlene Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heike Eva Schmidt
Vom Netzwerk:
still«, wies ich Jonathan an. »Die Rose hat magische Kräfte, und bestimmt wird sie dich auch jetzt erlösen!« Ich beugte mich zu dem Vogel hinunter, der ruhig auf dem Boden saß und zu mir hochsah. Hoffnungsvoll berührte ich seinen Rücken mit dem samtigen Blütenkopf. Nichts passierte. Ich versuchte es noch einmal und strich mit der Rose über seinen Kopf bis zu den Schwanzfedern und zurück.
    Vergeblich. Kein Wunder geschah und verwandelte den Raben in den menschlichen Jonathan zurück. Eine tiefe Niedergeschlagenheit überkam mich und spiegelte sich in Jonathans Augen. Er schlug ungeschickt mit den Flügeln, offenbar versuchte er zu fliegen, doch er taumelte mit einem tolpatschigen Flattern gerade mal zwei Handbreit hoch in die Luft, ehe er vor meinen Füßen eine Bauchlandung machte. Ich bückte mich, schloss meine gewölbten Hände vorsichtig um den Vogelkörper und hob ihn hoch. Der Rabe hielt ganz still, und sanft drückte ich ihn an mein Herz.
    »Ach, Jonathan, was ist bloß mit dir passiert?«, flüsterte ich und spürte, wie mir Tränen in die Augen traten.
    Der Rabe konnte mir nicht antworten, doch in meinem Kopf materialisierte sich plötzlich das Bild von uns beiden in den Bergen. Konnte ich etwa Jonathans Gedanken lesen? Es schien so, denn eine weitere Vorstellung tauchte vor meinem inneren Auge auf: Ich sah uns hinter der Kiefer kauern, während ein rot-schwarzer Feuerblitz auf uns zuschoss. Kurz darauf hatte ich einen kurzen, heißen Schmerz gespürt, und auch Jonathan hatte aufgeschrien. »Laurins Zauber!«, entfuhr es mir. Hatte er uns verfluchen wollen und Jonathan damit zu dem gemacht, was jetzt zitternd zwischen meinen Händen kauerte? Der Rabe bewegte den Kopf auf und ab, was wohl ein Nicken darstellen sollte.
    »Aber warum bin ich dann nicht verwandelt worden, schließlich hat mich der Feuerball doch auch gestreift?«, fragte ich, aber gleichzeitig war mir klar, dass weder Jonathan noch ich eine Antwort darauf wussten.
    »Glaubst du … ich meine, hast du das Gefühl, du wirst dich irgendwann einmal wieder zurückverwandeln?«, startete ich einen Versuch, mir und ihm Hoffnung zu machen. Der Vogel senkte den Kopf. Ein leiser, verzagter Laut drang aus seiner Kehle, und ich verstand auch ohne Worte, was das bedeutete.
    Eine ungeheuere Wut auf den Zwergenkönig erfasste mich wie ein plötzlicher Wirbelsturm. »Verdammter Laurin«, stieß ich hervor. »Hoffentlich hat das Gift ihm unerträgliche Schmerzen bereitet. Alles hat er mir kaputt gemacht! Erst nimmt er mir Caro weg und dann dich …«
    Die Gewissheit, dass ich nun ganz auf mich gestellt sein würde, ohne Jonathan an meiner Seite, der geschworen hatte, mich zu beschützen, und mir Mut gemacht hatte, raubte mir den Atem. Ich schluchzte auf, und der Zorn wich einer unendlichen Einsamkeit. Meine Tränen tropften auf das schwarze Rabengefieder. Ein leichter Schmerz in meinem Zeigefinger riss mich aus meinen graudüsteren Gedanken. Jonathan – beziehungsweise der Rabe – hatte mich vorsichtig mit dem Schnabel gekniffen. Ich sah ihn an. Er legte den Kopf schief und schien mir Zuversicht vermitteln zu wollen, dabei war es für ihn sicher unendlich schwer, sich an das Dasein in einem Tierkörper gewöhnen zu müssen.
    Verzweifelt wünschte ich mir eine gute Fee herbei, die mir einen Wunsch erfüllen würde … Unvermittelt blitzte eine Erinnerung auf, und ich sah mich wieder in Laurins Felsenreich stehen, wo der zornige Herrscher den Verlust seines goldenen Rings beklagte. »Drei Wünsche will ich dem erfüllen, der mir den Schmuck zurückbringt«, hörte ich den geisterhaften Widerhall seiner Stimme in meinem Kopf. Nun hatte ich die Lösung, wie ich Jonathan von dem Fluch befreien konnte.
    »Wir müssen dem Zwergenkönig den Ring zurückbringen, den ich damals gefunden habe und den einer von den Schülern mir weggenommen hat«, sagte ich zu dem Raben. »Laurin hat noch gelebt, als wir geflohen sind. Bestimmt haben wir dadurch die Chance, dich zu erlösen!«
    Jetzt zitterten meine Hände vor Aufregung, und meine Gedanken tanzten einen wilden Ringelreihen. Udo von Hassell hatte mir den Schmuck gewaltsam entwendet. Ob er ihn noch besaß oder schon längst zu Geld gemacht hatte? Lebte er noch in unserer Stadt, oder war er vielleicht längst weggezogen, womöglich ins Ausland? Die Fragen türmten sich zu einem Berg, der vor mir aufragte und beinahe unbezwingbar erschien. Trotzdem musste ich es versuchen.
    »Ich werde den gestohlenen Schmuck

Weitere Kostenlose Bücher