Die gestohlene Zeit
finden. Und dann muss der Zwergenkönig sein Versprechen einlösen, und du wirst wieder ein Mensch«, sagte ich entschlossen zu Jonathan. »Bis dahin wirst du dich aber wohl oder übel als Vogel durchschlagen müssen.«
Der Rabe begann zu zappeln und glitt mir fast aus den Händen. Hastig setzte ich ihn ab. Er schlug mit den Flügeln und hüpfte noch zwei Schritte, dann hatte er offenbar den Dreh raus, denn mit ein paar kraftvollen Bewegungen seiner glänzend schwarzen Schwingen erhob er sich in die Luft.
»Jonathan, nein! Lass mich nicht allein«, schrie ich angsterfüllt auf. Der Rabe zog einen Kreis um meinen Kopf, bevor er sich leicht und anmutig auf meiner Schulter niederließ, wo er ruhig sitzen blieb.
Ich atmete auf und drehte den Kopf. »Du hast mir einen ganz schönen Schreck eingejagt«, schimpfte ich und sah ihn strafend an. »Eine Sekunde lang dachte ich echt, du lässt mich hängen!«
Statt einer Antwort versuchte der Rabe, an meinem Ohrläppchen zu knabbern. »Lass das«, rief ich. »Nur weil du kein Mensch mehr bist, heißt das nicht, dass du jetzt auf Tuchfühlung gehen kannst, klar?«
Prompt flog der Vogel auf. »Okay, ich habe es nicht so gemeint«, rief ich. Mit einem leichten Glucksen ließ der Rabe sich wieder nieder, diesmal auf meiner anderen Schulter. »Schluss damit«, machte ich Jonathans Sperenzchen streng ein Ende. »Ich versuche jetzt, mich in meine Stadt durchzuschlagen, und du bleibst gefälligst bei mir und machst keinen Scheiß!«
Wieder zwickte mich der Vogel, diesmal aber etwas weniger sanft. »Aua! Also gut, du machst keinen … Unsinn. Habe ich mich für deinen Geschmack gewählt genug ausgedrückt?«, maulte ich. Noch einmal gluckste der Rabe, und diesmal klang es ziemlich selbstzufrieden.
Vorsichtshalber hob ich Jonathans Klamotten auf, als etwas Rundes aus der Tasche seiner Hose rutschte und über die Straße rollte, direkt auf die Rillen eines Gullys zu. Noch ehe ich reagieren konnte, stieß sich der Rabe von meiner Schulter ab und griff sich das Ding mit dem Schnabel, ehe es im Kanal verschwand. Elegant segelte er zu mir zurück und ließ seine Beute in meine ausgestreckte Hand fallen. Ein Knopf, dachte ich zuerst. Dann aber erkannte ich den schwarzen Kiesel aus dem Zwergenreich, der uns bei der Flucht den Weg geleuchtet hatte.
Zwar konnte er offenbar den Fluch auch nicht lösen, sonst wäre Jonathan nach der Berührung mit ihm ja jetzt kein Rabe mehr, aber wer wusste, wofür der Stein noch gut sein würde. Behutsam wickelte ich ihn zusammen mit der Rose in das Kleiderbündel ein und machte mich anschließend auf den Weg zur nächsten größeren Straßenkreuzung.
Dort hielt ich den Daumen raus, und tatsächlich dauerte es nicht lange, bis ein alter Golf hielt, dessen Farbe einmal rot gewesen sein musste. Am Steuer saß eine brünette junge Frau, die wie etwa Mitte zwanzig wirkte. Ihre Beifahrerin war ungefähr gleich alt, nur wurden ihre weißblonden Haare von schrillpinkfarbenen Strähnchen gekrönt. Sie ließ das Fenster an ihrer Seite herunter, und ich erhaschte einen Blick auf den Ring, den sie durch die Nase gezogen hatte und der ihr das Aussehen eines niedlichen Stierkälbchens verlieh.
»Hi! Wo willst du denn hin?«, fragte sie mich.
Noch ehe ich antworten konnte, hatte sie den Raben auf meiner Schulter entdeckt. »Das ist ja witzig«, rief sie. »Ist der zahm?« Ich nickte, während ich gleichzeitig den Ort nannte, in dem ich ins Internat und später zur Uni gegangen war.
»Steig ein, das liegt auf unserem Weg«, grinste sie.
»Aber nur, wenn das Federvieh keinen Scheiß macht«, schaltete sich die Fahrerin ein und musterte Jonathan skeptisch. Unwillkürlich musste ich bei ihren Worten grinsen, denn prompt gab der Rabe einen unwilligen Laut von sich, den zum Glück nur ich hören konnte.
»Der ist brav«, versicherte ich hastig und warf meinem tierischen Begleiter einen warnenden Blick zu. Tatsächlich verhielt er sich still, auch wenn er mit einem kurzen Trippeltanz auf meiner Schulter seiner Missbilligung über die Wortwahl des Mädchens Ausdruck verlieh.
Vorsichtig nahm ich auf dem Rücksitz Platz und spürte die Vogelkrallen auf meiner Haut, die Halt suchten, während die Fahrerin Gas gab und sich in den Verkehr einfädelte. »Danke fürs Mitnehmen«, sagte ich und versuchte, den forschenden Blick der Brünetten im Rückspiegel wegzulächeln.
Die Blonde mit den Strähnchen wandte sich halb zu mir um. Hoffentlich löcherte sie mich jetzt nicht,
Weitere Kostenlose Bücher