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Die gestohlene Zeit

Die gestohlene Zeit

Titel: Die gestohlene Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heike Eva Schmidt
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woher ich kam und wieso ich ein festliches Mieder zur Wanderhose trug, dachte ich beklommen. So schnell wollte mir keine gute Erklärung dafür einfallen. Doch sie deutete nur auf den Vogel. »Wo hast du den denn her?«, fragte sie ehrlich interessiert und musterte Jonathan, der genauso interessiert zurückstarrte.
    »Ach … den hab ich auf der Straße gefunden. Er konnte zuerst nicht fliegen, und da habe ich mich um ihn gekümmert«, gab ich Auskunft. Es war nicht mal gelogen. Der Hals des Raben war inzwischen immer länger geworden, während er die pinkfarbenen Strähnen des Mädchens inspizierte. Ich lehnte mich etwas zurück, um Jonathan zu signalisieren, dass er seine Neugierde gefälligst zügeln sollte. Da schallte auf einmal laute Musik durch das Innere des Wagens, so dass ich heftig zusammenzuckte und der Vogel beinahe einen Sturzflug in den Fußraum gemacht hätte.
    »Mann, Ina! Musst du immer so laut machen?«, überschrie die Blonde die kräftige Frauenstimme, die nun aus den Boxen der Autoanlage dröhnte.
    »Hey, ich mag Duffy!«, gab die Gescholtene ebenso laut zur Antwort und blickte kurz in den Rückspiegel. »Kennst du, oder?«, testete sie meinen Musikgeschmack.
    Ich kannte nur Duffy Duck aus den Zeichentrickfilmen, die ich früher mit Caro immer geschaut hatte. Unwahrscheinlich, dass die Comicfigur inzwischen sang.
    »Hab schon mal was von gehört …«, blieb ich bewusst vage. Die Brünette schnaubte entrüstet. Wahrscheinlich dachte sie, ich lebte hinterm Mond. Gerne hätte ich sie gefragt, ob sie meine Lieblingssänger und -bands kannte: Duran Duran, David Bowie, Tom Waits, Eurythmics … Was wohl Madonna und die Dire Straits inzwischen machten? Ich traute mich nicht zu fragen. Allerdings bereiteten mir auch weniger meine fehlenden Musikkenntnisse Sorgen, sondern Jonathan. Ihn musste dieser Lärm ziemlich ängstigen, kannte er doch bisher nur Harfe und Cembalo, oder was man in den Achtzigerjahren des 18 . Jahrhunderts an Instrumenten eben so gespielt hatte. Vorsichtig schielte ich zur Seite.
    Verblüfft sah ich, wie der Rabe, der inzwischen neben mir auf dem Sitz hockte, sich im Takt der Musik rhythmisch vor und zurück wiegte. Offenbar fand er Gefallen an dieser Duffy und ihrem Song.
    Auch die Blonde sah es und kreischte vor Lachen. »Hey, das solltest du filmen und bei YouTube einstellen!«
    »Bei – wo?«, rutschte mir raus. Sie runzelte die Stirn, und mir wurde klar, dass ich offensichtlich einen ziemlichen Fauxpas begangen hatte. »Ach so,
dort
meinst du! Ja klar, mache ich, gute Idee«, schob ich daher hastig nach, während ich mich insgeheim fragte, was zum Teufel dieses »Jutjub« war und wie ich all das Wissen um die Dinge aufholen sollte, die mehr als ein Vierteljahrhundert lang an mir vorbeigerauscht waren.
    Um nicht noch in weitere Fettnäpfchen zu treten, beschloss ich, die Mädels nun meinerseits ein bisschen auszufragen. Vielleicht würde ich auf diese Weise einige Lücken, die die vergangenen siebenundzwanzig Jahre in meinem Leben hinterlassen hatten, aufholen können.
     
    Als der verblasste rote Golf mich mitsamt meinem Raben ausspuckte, wusste ich immerhin dank einer Mischung aus Radionachrichten und den Gesprächen der beiden Freundinnen, wie der aktuelle Papst hieß, dass Helmut Kohl als Bundeskanzler schon seit mehr als zwanzig Jahren aus dem Amt war und die meisten Supermärkte jetzt eine »Bio-Ecke« hatten, wenn nicht gleich ihr ganzes Sortiment »Öko« war.
    Obwohl mir der Kopf von den vielen neuen Informationen schwirrte, fiel die Verabschiedung von den beiden Mädchen herzlich aus. Zoe, die Blonde, wollte Jonathan über seinen Vogelkopf streichen, doch der wich mit einem unwilligen Krächzlaut aus. Mir lag schon »Nur ich darf ihn anfassen«, auf der Zunge, doch Zoe nahm die tierische Abfuhr locker.
    »Na gut, dann nicht«, grinste sie, und damit brausten sie und Ina mit einem letzten Winken aus dem offenen Fenster davon.
    Ich drehte den Kopf zu Rabe Jonathan, der auf meiner Schulter hockte und mich aufmerksam ansah. »Das war ja schon mal kein schlechter Anfang«, versuchte ich, uns beiden Mut zu machen.
    Doch kurz darauf erhielt meine Euphorie einen ersten Dämpfer. Weder im Studentenwohnheim noch an der Universität, die nur zwei Querstraßen weiter lag, konnte man mir sagen, was aus Caro geworden war. Zwar sah die freundliche Sekretärin in der naturwissenschaftlichen Fakultät in den Unterlagen nach, doch das Einzige, was sie fand, war eine

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