Die gestohlene Zeit
Exmatrikulationsbescheinigung aus dem Jahr 1988 . Ausgestellt auf den Namen Caroline Benning. Nicht einmal ein Jahr nach meinem Verschwinden hatte Caro ihr Pharmazie-Studium geschmissen. »Leider kann ich Ihnen nicht weiterhelfen«, sagte die grauhaarige Frau und sah mich über ihre Brille hinweg freundlich an. »Was aus den Studenten wird, wissen wir in der Regel nicht, außer sie sind nach ihrem Abschluss noch an der Uni tätig.«
Ich bedankte mich aufrichtig, doch ein Gefühl der Niederlage drohte sich in mir breitzumachen. Ich beschloss jedoch, nicht aufzugeben.
»Als Nächstes gehen wir zum Internat. Vielleicht können die mir sagen, wo sie inzwischen lebt«, erklärte ich dem Raben, der vor der Universität auf einer der steinernen Säulen hockte und auf mich gewartet hatte. Energisch schlug ich den Weg zu unserer ehemalige Wohnstätte ein. Bestimmt hatte Caro den Kontakt zu unseren damaligen Internatsbetreuern aufrechterhalten. Und selbst wenn die meisten längst in Rente waren, gab es vielleicht noch einen Hinweis darauf, wo meine Freundin jetzt lebte. Bei der Vorstellung, ich würde Caro schon bald wiedersehen, durchströmten mich widersprüchliche Gefühle: Freude, aber auch Angst. Was würde sie sagen, wenn ihre totgeglaubte Jugendfreundin nach fast dreißig Jahren vor der Tür stand – und immer noch so aussah wie 1987 , während sie auf die fünfzig zuging? War es überhaupt eine gute Idee, nach ihr zu suchen, oder sollte ich sie besser in dem Glauben lassen, ich wäre für immer verschwunden? Vielleicht würde ihr mein Auftauchen einen Schock versetzen, von dem sie sich nie mehr erholte?
Ein winzig kurzer Schmerz an meinem Ohrläppchen und ein vorwurfsvolles Krächzen erinnerten mich daran, dass ich immer noch mitten auf dem Gehweg stand. Offenbar konnte nicht nur ich Jonathans Stimmungen fühlen, sondern auch umgekehrt, denn der Rabe flatterte auf und flog ein Stück voraus, ehe er eine elegante Kurve in der Luft beschrieb und zu mir zurückkehrte. Er landete vor meinen Füßen und sah mich mit schiefgelegtem Kopf an. Ich interpretierte es als Aufforderung. »Du hast ja recht«, sagte ich zu ihm. »Die Einzige, die mir helfen kann, ist nun mal Caro. Ich hoffe nur, sie fällt nicht in Ohnmacht, wenn sie mich sieht.«
Der Vogel schüttelte sich einmal kurz, bevor er sich wieder in die Lüfte erhob. Er flog hinter mir her, während ich den Marktplatz der vertrauten Stadt überquerte und in das Gewirr der kleinen Gässchen eintauchte, deren Kopfsteinpflaster bestimmt schon seit Jonathans Geburt existierte. Ich lief einmal quer durch den Ort bis ans andere Ende und stand schließlich vor dem imposanten Gebäudekomplex des Internats, in dem Caro und ich jahrelang ein und aus gegangen waren. Meist ununterbrochen quatschend. Es gab nichts, was ich nicht von Caro gewusst hätte – und sie von mir. Zum Beispiel, dass sie sich heimlich eine Familie und Kinder wünschte. Sie wollte im Leben nicht nur Apothekerin, sondern auch Mutter sein – am liebsten von einer Tochter – und ihrem Kind das geben, was sie in ihrer eigenen Kindheit nie erlebt hatte.
In Erinnerungen versunken stieg ich die geschwungene Steintreppe hoch, deren Stufen von den vielen Füßen unzähliger Internatsschüler an einigen Stellen in einem hellen Graphitton glänzten. Zuerst nahm ich Jonathans aufgeregtes Krächzen über meinem Kopf nicht wahr, so sehr war ich mit mir und meinen Gedanken beschäftigt. Erst nachdem er sich mit angelegten Flügeln fast senkrecht vor meinen Augen aus drei Metern Höhe stürzte und sich nur knapp vor dem Boden wieder hochschraubte, schenkte ich ihm Aufmerksamkeit. Er schlug mit den Flügeln und stieß heisere Laute aus, aber diesmal vermochte ich seine Aufregung nicht zu deuten. Auch die Bilder, die ich übermittelt bekam, waren undeutlich und zeigten nur das Gebäude, vor dem ich stand.
»Du kannst nicht mit rein«, ermahnte ich ihn streng. »Hier stehen überall große Bäume. Warum machst du es dir nicht wieder auf einem Ast bequem und wartest, bis ich zurück bin?«
Abrupt drehte der Vogel ab und verschwand im dichten Geäst der alten Kastanie, auf die ich damals schon aus dem Fenster des Internatszimmers geblickt hatte. Ich bildete mir ein, sie wäre inzwischen noch ein Stück höher geworden. Ich schirmte die Augen mit der Hand ab und entdeckte Jonathan auf einem Ast. Er drehte mir die Schwanzfedern zu, was in Rabensprache offenbar ein Schmollen war, warum auch immer. Momentan hatte ich
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