Die gestohlene Zeit
zweiten Mal an diesem Tag stand ich vor einer Haustür, hinter der der wichtigste Mensch aus meiner Vergangenheit wohnte. Ich hatte Herzklopfen und Angst. Vorsichtshalber hatte ich meinen alten Betreuer gebeten, mich zu Caro zu begleiten. Jonathan war mitgekommen, hatte sich aber auf einem Ast positioniert, weil ich es für besser hielt, erst einmal ohne Rabe auf der Schulter bei meiner besten Freundin aufzutauchen.
Ein schlichtes Schild hing an der Wand: »Familie Strassner«. Die Haustürklingel gab ein helles Scheppern von sich, und wieder näherten sich aus dem Inneren Schritte, diesmal allerdings schnell und leicht. Schwungvoll flog die Tür auf, und vor mir stand – Caro. Auch sie war um keinen Tag gealtert, nur ihre Haare waren länger geworden und fielen nun, zu einem Pferdeschwanz gebunden, über ihre Schultern.
»Caro«, schrie ich und fiel meiner besten Freundin impulsiv um den Hals. Zu meiner Überraschung erwiderte sie meine Umarmung jedoch nicht, sondern machte sich unwillig los. »Spinnst du?«, fauchte sie. Ich ließ die Arme sinken und wich zurück. Hätte sie mich mit einem Eimer eiskalten Wassers übergossen, der Schock über ihr Verhalten hätte nicht stärker sein können.
Hinter mir räusperte sich Spindler. »Ich fürchte, Sie haben sich durch die Ähnlichkeit täuschen lassen«, sagte er an mich gewandt behutsam.
Irritiert nahm ich meine vermeintlich beste Freundin genauer in Augenschein und bemerkte, wie jung sie war, jünger als ich. Fünfzehn oder sechzehn, tippte ich.
Sie starrte mich finster an. »Kann mir mal jemand sagen, was das soll? Sind Sie von irgend so ’ner Erweckungskirche und umarmen die Leute erst mal, bevor Sie ihnen Kohle aus den Rippen leiern, oder was?«, raunzte sie. Mir hatte es die Sprache verschlagen, daher schaltete sich Spindler ein.
»Mein Name ist Theo Spindler, ich bin pensionierter Lehrer und kenne deine Mutter. Du bist die Tochter von Caroline, richtig?« Die gepflegte Sprechweise und seine besonnene Art schienen das aufgebrachte Mädchen etwas zu besänftigen. Sie nickte. »Ich heiße Emilia«, informierte sie uns.
»Ich auch«, rief ich verblüfft. Hatte Caro ihre Tochter nach mir benannt? Mein Gefühl der Rührung wurde jedoch gleich erstickt, als ich meiner Namensvetterin ins Gesicht sah. Offenbar hegte sie ein tiefes Misstrauen gegen mich.
»Liebe Emilia, ich kann dir versichern, dass wir mit den besten Absichten gekommen sind«, ertönte Spindlers leise, angenehme Stimme hinter meinem Rücken. Offenbar richtete er seine Worte aber an Caros Tochter. »Die Freundin deiner Mutter, die ich mitgebracht habe, wird dir alles erklären. Aber ich glaube, es wäre das Beste, in Ruhe zu reden. Dürfen wir hereinkommen?«
Einen Moment zögerte die andere Emilia, dann aber trat sie einen Schritt beiseite. »Also gut, dann mal rein in die gute Stube. Es ist allerdings nicht aufgeräumt«, warnte sie.
Das war eine nette Umschreibung für das Chaos, das sich uns im Wohnzimmer, in das uns Emilia – »aber alle nennen mich Lilly« – geführt hatte. Klamotten, Zeitschriften und ein Karton mit einem Rest kalt gewordener Pizza lagen wild auf dem Boden, dem Sofa und dem gläsernen Couchtisch verstreut.
»Sorry, aber meine Eltern sind verreist. Ich habe sturmfreie Bude und … na ja … ich bin nicht so der hausfrauliche Typ«, sagte Lilly entschuldigend und warf hastig ein paar T-Shirts von der Couch, damit Spindler und ich uns setzen konnten. Ich musterte sie verstohlen. Es war verblüffend, wie ähnlich sie Caro sah. Beide hatten blonde Haare und braune Augen. Lillys Nase wies genau denselben kleinen Schwung nach oben auf, nur waren ihre Lippen etwas voller als die ihrer Mutter. Caros Traum von einer Familie hatte sich also erfüllt.
»Hat sie … also deine Mutter, eigentlich woanders fertig studiert und jetzt ihre eigene Apotheke?«, fragte ich Lilly, die mir den Rücken zugedreht hatte und hastig zwei leere Kekspackungen zusammenknüllte, die mitten auf dem Boden lagen. Der blonde Pferdeschwanz flog, als sie den Kopf schüttelte. »Nö, meine Ma ist Ärztin. Sie fliegt ziemlich oft Notarzteinsätze für die Bergrettung«, fügte Lilly noch hinzu, und mein Herz zog sich in einem kurzen Schmerz zusammen.
Meine Augen trafen die von Spindler, und ich sah ihn traurig lächeln. »Caroline musste das Gefühl haben, wenn sie
Sie
schon nicht retten konnte, dann wenigstens so viele andere Menschen wie möglich«, sagte er, und ich staunte über seine
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