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Die gestohlene Zeit

Die gestohlene Zeit

Titel: Die gestohlene Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heike Eva Schmidt
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ein Buch zu Boden und blieb aufgeschlagen liegen. Der Rabe begann, mit dem Schnabel die Seiten umzublättern, wobei er sich erstaunlich geschickt anstellte. Trotzdem hatte ich Angst, er würde Spindlers Besitz ruinieren, daher beeilte ich mich, aus meinem Sessel aufzustehen, wobei ich dem Raben einen strafenden Blick zuwarf. Der ältere Herr und ich erreichten das am Boden liegende Buch gleichzeitig, und ich bückte mich, um es aufzuheben. Da spürte ich Spindlers Hand an meinem Arm, der mich davon abhielt.
    »Sie hatten recht. Das ist kein gewöhnlicher Rabe. Er hat sich ein Werk von William Shakespeare herausgesucht. Sehen Sie nur«, sagte er und hob das Buch auf, wobei er auf die aufgeblätterte Seite deutete. Am linken unteren Seitenrand stand
Hamlet.
An der Stelle, auf die Spindler deutete, sagte Hamlet zu Horatio: »Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als Eure Schulweisheit sich träumen lässt.«
    Ich starrte den Vogel an. »Woher kennst du Shakespeare?«, rief ich verblüfft. Bis mir einfiel, dass der Dichter bereits um 1600 herum gelebt und geschrieben hatte. Der Rabe krächzte ein paar Mal, es klang wie Gelächter.
    »Magie«, murmelte Spindler nachdenklich. »Es gibt sie also tatsächlich. Genau wie König Laurin keine Sagengestalt, sondern ein real existierendes Wesen ist. Tut mir leid, dass ich gezweifelt habe«, wandte er sich höflich an Jonathan. Der neigte mit elegantem Schwung den Kopf, scheinbar war das als Verbeugung gemeint.
    »Ganz reizend«, murmelte der ehemalige Pädagoge. Das fand ich auch, lieber wäre mir allerdings gewesen, wenn Jonathan seinen Charme als Mensch hätte versprühen können. Höchste Zeit, den Fluch zu lösen, dachte ich und wandte mich an Spindler.
    »Ich muss Udo von Hassell finden«, erklärte ich meinem ehemaligen Betreuer. »Er hat mich damals verletzt zurückgelassen und den Ring an sich genommen. Ich muss ihn wiederbekommen. Es ist die einzige Möglichkeit, den Herrscher der Zwerge dazu zu bewegen, den Fluch zu lösen und Jonathan wieder seine menschliche Gestalt zurückzugeben.« Spindler nickte.
    »Eigentlich hatte ich ja gehofft, meine beste Freundin Caro aufzutreiben, aber ich habe keine Spur von ihr gefunden«, fuhr ich fort.
    »Sie meinen die junge Frau, mit der Sie im Studentenwohnheim gelebt haben?«, fragte Spindler. Ich sah ihn verblüfft an. »Ja! Woher kennen Sie Caro denn?«
    »Sie kam nach Ihrem Verschwinden auf mich zu. Caroline wusste, dass ich Sie während Ihres Praktikums betreut hatte. Ich habe mir damals schreckliche Vorwürfe gemacht, Sie zu dieser Kursfahrt mitgenommen zu haben, Emilia. Wir dachten, Sie hätten sich verlaufen und wären abgestürzt, weil wir nicht genügend auf Sie aufgepasst haben. Aber bei fast fünfzig Schülern …«
    »Nein, das war doch nicht Ihre Schuld!«, rief ich. Bei dem Gedanken, dass Spindler fast dreißig Jahre ein schlechtes Gewissen mit sich herumgeschleppt hatte, wurde mir ganz beklommen zumute.
    »Caroline hat mich kontaktiert. Sie wollte wissen …« Spindler stockte und holte tief Luft. »Sie hat mich gefragt, ob mir vor Ihrem Verschwinden irgendetwas Ungewöhnliches aufgefallen ist. Aber alles, was ich Ihrer Freundin sagen konnte, war, dass Sie auf mich einen fröhlichen und unbeschwerten Eindruck gemacht haben, nachdem wir kurz vor Ihrem … Unfall noch miteinander gesprochen haben.«
    »Wissen Sie zufällig, wo Caro jetzt lebt? Geht es ihr gut?«, wollte ich hastig wissen.
    Der alte Mann nahm seine Brille ab und putzte die Gläser mit seinem Hemdzipfel. Er zögerte mit der Antwort, und ich spürte schon den eisigen Frost der Angst, der mein Herz zu überziehen begann, da hob Spindler den Kopf und sah mich an.
    »Ja, es geht ihr gut«, sagte er und fügte hinzu: »Das glaube ich zumindest.« Er musste die Frage in meinen Augen gesehen haben, denn leise fuhr er fort: »Wir haben nur sporadisch Kontakt. Caroline hat lange um Sie getrauert, Emilia. Und tut es wohl immer noch. Ihre Freundin hat mir erzählt, sie hat all die Jahre, zu keiner Zeit, an einen Unfall dort im Gebirge geglaubt. Sie lebt hier ganz in der Nähe, im nächsten Ort.«
    Ich hielt den Atem an. Nun würde ich Caro doch wiedersehen! Und vielleicht konnten sie und Spindler mir ja dabei helfen, den Ring zurückzuerobern. Wie eine zarte Pflanze begann neue Hoffnung in meinem Herzen zu keimen.
    »Meinen Sie, ich kann Caro gleich besuchen? Heute noch?«, fragte ich begierig. Ich konnte es kaum mehr erwarten.
    »Erst einmal müssen Sie

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