Die gestohlene Zeit
Treffsicherheit. Das Gleiche hatte ich auch gerade gedacht. Eine heftige Sehnsucht nach meiner besten Freundin erfasste mich. Ich hätte sie jetzt gerne in den Arm genommen und ihr gesagt, dass sie nicht mehr um mich trauern musste und ich die ganze Zeit dort unten im Berg an sie gedacht hatte.
»Also, woher kennst du meine Mutter, und wieso hast du vorhin gedacht, ich wäre sie?«, unterbrach Lilly meine Gedanken.
»Wir haben zusammen im Internat und dann Tür an Tür im Studentenwohnheim gewohnt«, sagte ich leise.
»Ach komm, hör auf! Das kann nicht sein, es würde ja sonst nicht mit rechten Dingen zugehen«, argumentierte Lilly.
»Da hast du den Nagel auf den Kopf getroffen«, erwiderte ich und putzte mir die Nase. Weil ich dachte, ihr eine Erklärung zu schulden, fügte ich hinzu: »Ich bin nämlich verzaubert worden.«
Lilly starrte mich an, dann stand sie mit aller Würde, die sie mit ihren einen Meter sechzig zustande brachte, vom Sofa auf. »Hör mal, ich bin zwar blond, aber nicht blöde«, sagte sie und funkelte mich wütend an. »Ich weiß nicht, warum du hier aufgekreuzt bist, aber jetzt ist es Zeit zu gehen! Und mach die Tür zu – von außen!«
»Nein, Lilly, hör zu, ich …«, stotterte ich überrumpelt. Der Schuss war ja wohl nach hinten losgegangen.
»Ich kann dir versichern, liebe Lilly, Emilia sagt die Wahrheit«, schaltete sich Herr Spindler ein. »Sie hat keinen Grund, dich anzulügen. Hat deine Mutter vielleicht ein paar alte Fotos da …?«
Ich konnte den Blick nicht von Lilly wenden, die in einer Schublade des Wohnzimmerschranks herumkramte. Es hatte noch einige Überredungskunst von Herrn Spindler gebraucht, bis sie sich widerwillig bereit erklärt hatte, auf die Suche nach einem Fotoalbum ihrer Mutter zu gehen.
»Hier«, rief sie auf einmal triumphierend. Ächzend kam sie wieder zum Vorschein, in der Hand ein großes Buch. Es versetzte mir einen Stich, weil ich den knallbunten Einband »unseres« Fotoalbums wiedererkannte. Von ihrem 14 . Geburtstag an hatte Caro darin Fotos gesammelt, die meisten hatten uns beide gezeigt.
Lilly schlug die erste Seite auf, und schon lächelte mir Caros Gesicht entgegen. Ich erinnerte mich sogar, wo das Foto aufgenommen worden war: bei unserer Internatsweihnachtsfeier 1981 . Zu diesem Anlass hatte ich mich das erste Mal getraut, meine selbstgebackenen Plätzchen anzubieten, die innerhalb kürzester Zeit aufgefuttert waren. Damals war in mir der Wunsch entstanden, später mal ein eigenes Café zu eröffnen. Mein Blick wanderte zum nächsten Bild: Caro und ich lachend bei einer Faschingsparty. Wir hatten beide irgendwelche rosa Klamotten an, weil wir als »Schneeweißchen und Rosenrot« gegangen waren. Seitdem hatten uns alle so genannt. Bei der Erinnerung, wie unzertrennlich wir waren, bildete sich ein heißer Klumpen in meiner Kehle, und salzige Tränen verschleierten meinen Blick. Ich atmete tief durch und fuhr mir hastig über die Augen. Im nächsten Moment wurde mir ein Taschentuch unter die Nase gehalten. Lilly musterte mich mit Skepsis.
»Okay, du siehst dem Mädchen auf dem Foto ähnlich. Sogar sehr. Aber du kannst nicht
die
Emmi sein, von der meine Mutter immer erzählt hat! In Wirklichkeit bist du Emmas Tochter, stimmt’s?«
Ich schüttelte den Kopf.
Lilly studierte mein Gesicht gründlich, dann starrte sie auf die Schnappschüsse. Ihre Miene war immer noch zweifelnd, aber ich spürte, wie sie zu schwanken begann. »Du siehst wirklich genau so aus wie Mas Freundin. Aber … Wie kann das sein?«
»Hör zu, Lilly, was ich dir jetzt erzähle, klingt wahrscheinlich völlig verrückt, aber ich schwöre dir, es ist wahr. Du darfst es nur bitte niemandem verraten, sonst bin ich echt am A…« Ich bremste mich gerade noch rechtzeitig, da schließlich ein ehemaliger Lehrer neben mir saß. »Ich meine, ich bekomme sonst große Probleme«, beendete ich daher hastig meinen Satz.
Lilly nickte, wobei sie keine Sekunde den Blick von mir ließ. Also wiederholte ich noch einmal die Geschichte von meinem Unfall, der mich in Laurins Rosengarten und damit in die Gefangenschaft des Zwergenherrschers geführt hat. An der Stelle, als Laurin mich zur Heirat hatte zwingen wollen, murmelte Lilly grimmig »Widerling«. Kurz darauf war ich bei meinem Bericht an der Stelle mit dem giftigen Fingerhut angekommen, und sie hing atemlos an meinen Lippen.
»Ich bin ihm entkommen, aber ich muss ihm diesen Ring zurückgeben. Dann habe ich nämlich drei
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