Die gestohlene Zeit
etwas Anständiges essen. Sicher haben Sie vor lauter Aufregung noch nichts im Bauch«, bestimmte Spindler energisch. Ich hatte bisher nicht daran gedacht, aber jetzt, da er es erwähnte, begann mir tatsächlich der Magen zu knurren. Mein alter Betreuer sah mir den Hunger wohl an der Nasenspitze an, denn er lächelte.
»Ich kümmere mich darum. Währenddessen steht Ihnen mein Badezimmer zur Verfügung, falls Sie sich etwas frisch machen wollen. Handtücher finden Sie im Regal hinter der Tür.«
Damit wandte er sich ab und steuerte mit dem elastischen Gang eines zwanzig Jahre jüngeren Mannes die Küche an, die direkt an das Wohnzimmer grenzte. Jonathan flatterte auf, aber ich bedachte ihn mit einem strengen Gouvernantenblick.
»Du bleibst schön hier«, wies ich ihn an. »Sei nett zu Herrn Spindler, dann gibt er dir vielleicht noch ein paar Nüsse oder was Raben eben so essen«, fügte ich hinzu.
Ohne auf Jonathans protestierende Laute zu hören, ging ich ins Bad und schloss die Tür hinter mir. Alles war blitzsauber, und der Stapel frischer Handtücher duftete zart nach Lavendel. Zum ersten Mal seit Tagen, die ja in Wirklichkeit Jahrzehnte waren, blickte ich wieder in einen Spiegel und sah das Gesicht einer einundzwanzigjährigen jungen Frau mit rötlichen Locken und grünen Augen. Meine Haut war glatt und faltenlos. Ich schloss die Augen und versuchte mir vorzustellen, wie Caro wohl inzwischen aussah und ob ich sie wiedererkennen würde, wenn sie jetzt neben mir stünde und wir beide uns im Spiegel betrachteten. Als ich die Augen öffnete, meinte ich tatsächlich ein zweites Gesicht zu sehen. Es war zuerst verschwommen, doch langsam schälten sich die Konturen heraus, und das beschlagene Glas wurde klarer. Als ich erkannte, wer mich ansah, schrie ich auf: Es war nicht Caros Gesicht. Sondern die abstoßende Fratze Laurins.
»Emilia, geht es Ihnen nicht gut? Sie sind ja ganz blass«, rief Spindler besorgt, nachdem ich aus dem Bad getaumelt war. Der Anblick des Zwergenkönigs war genauso schnell wieder aus dem Spiegel verschwunden, wie er aufgetaucht war. Ich hatte mir zuerst kaltes Wasser ins Gesicht gespritzt, ehe ich unter die Dusche geklettert war und das Wasser so heiß aufdrehte, bis ich es fast nicht mehr aushielt. Am liebsten hätte ich die Erinnerung an den hässlichen Herrscher der Zwerge ein für alle Mal von mir abgewaschen. Doch immer wieder tauchte sein verzerrtes Gesicht, über das blutige Tränen liefen, vor meinen Augen auf, und seine Drohung, er würde mich finden, gellte mir in den Ohren.
Schließlich stieg ich aus der Kabine und vergrub mein Gesicht in einem der duftenden Badetücher. Ich war meinem ehemaligen Tutor unendlich dankbar, dass er mich nicht ausgelacht oder gar für verrückt erklärt hatte. Er würde mir helfen, dessen war ich mir ganz sicher. »Alles wird gut«, versuchte ich mir selbst Mut zuzusprechen. Leider gab es einen Teil in mir, der nicht daran glaubte.
Trotzdem bemühte ich mich, mir meine Sorge nicht anmerken zu lassen, und schüttelte auf Spindlers mitfühlende Frage den Kopf. »Es war nur alles ein bisschen viel für mich«, lächelte ich gezwungen. Er nickte verständnisvoll. »Nun essen Sie erst einmal. Ich habe Ihnen einen Linseneintopf von heute Mittag aufgewärmt, gesund und nahrhaft«, informierte er mich.
Zum Glück keine Gemüsesuppe, dachte ich mit einem Anflug von Galgenhumor. Ich hätte sonst wahrscheinlich keinen Bissen heruntergebracht, sondern immer an die vergifteten Zwerge denken müssen. Entschlossen verdrängte ich jegliche Erinnerung und machte mich über den schmackhaften Eintopf her.
»Hmmm«, mümmelte ich mit vollem Mund. »Das ist echt das Beste, was ich seit langem gegessen habe. Genau genommen, seit siebenundzwanzig Jahren«, setzte ich trocken hinzu, und Spindler lächelte.
»Sie besitzen eine bewundernswerte Art«, sagte er. »Ich bin überzeugt, Sie schaffen es, sich trotz fast drei Jahrzehnten Abwesenheit wieder in der Welt zurechtzufinden.«
»Das hoffe ich auch«, murmelte ich und dachte, dass ich das Internet, die komische Mode und selbst die Jahre, die unwiederbringlich an mir vorübergerauscht waren, ertragen konnte, wenn ich nur Caro finden und Jonathan wieder ein Mensch werden würde.
Bis dahin war es aber noch ein weiter Weg, und der erste Schritt führte mich in den Nachbarort zu einem freundlichen Holzhaus, das in einem matten Graublau-Ton gestrichen war und dessen weiße Fensterrahmen in der Sonne leuchteten. Zum
Weitere Kostenlose Bücher