Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die gestohlene Zeit

Die gestohlene Zeit

Titel: Die gestohlene Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heike Eva Schmidt
Vom Netzwerk:
zurück.
    Spindler schüttelte den Kopf. »Ich denke, Sie müssen diesbezüglich keine Angst haben«, beruhigte er mich. »Was allerdings die inzwischen vergangene Zeit angeht, haben Sie nun natürlich erst mal ein Problem.«
    Ich nickte. Jeder andere hätte mich wahrscheinlich für verrückt erklärt. Doch der pensionierte Lehrer sah verträumt aus den Fenstern, vor denen knallrote Geranien wohlwollend zu uns hereinnickten. »Mein ganzes Leben lang haben mich die Leute für meine Zeit-Raum-Theorie belächelt«, murmelte er. »Und jetzt kommen Sie, und ich habe die Bestätigung. Es gibt also noch eine andere Zeitrechnung als diejenige, die wir kennen.«
    »Ja, aber das erzählen Sie doch hoffentlich niemandem«, warf ich ängstlich ein. Wenn er mit der Story zur Zeitung ging, würden die mir auf Schritt und Tritt folgen und darüber berichten. Als Nächstes kämen die Wissenschaftler, die mich allen möglichen Tests unterziehen würden, um herauszufinden, wieso ich nicht gealtert war. Ganz zu schweigen von den Neugierigen, die sich auf die Suche nach Laurins Rosengarten machen würden. Eins wäre jedenfalls sicher, dachte ich grimmig: Sie würden dort eine unangenehme Überraschung erleben.
    »Nein, natürlich nicht, was denken Sie von mir!«, beruhigte mich Spindler. »Ihr Geheimnis bleibt in diesen vier Wänden, versprochen.«
    »Vielen Dank«, atmete ich auf. »Da wäre nämlich noch etwas …« Ich stockte, und mein Blick schweifte zu Jonathan. Der hatte aufgehört, die Kekskrümel zu vertilgen, und sah mich mit seinen runden Vogelaugen aufmerksam an. Auch der ältere Mann schenkte mir einen fragenden Blick.
    Ich holte tief Luft. »Ich habe Ihnen noch nicht die ganze Geschichte erzählt«, fing ich an. »Ich war nicht der einzige Mensch in Laurins Felsenreich. In der Küche arbeitete auch noch so ein Junge …« Ein kurzer Schmerz ließ mich aufschreien. Jonathan hatte mich mit dem Schnabel in den Oberarm gekniffen.
    »Aua«, rief ich empört. Der Vogel krächzte gekränkt. »Ja, okay! Es war ein
sehr gutaussehender junger Mann
«, gab ich augenrollend nach. Mit einem zufriedenen Schnabelklappern ließ Jonathan sich wieder auf der Sessellehne nieder.
    Spindler blickte verdattert von dem Vogel zu mir. »Jedenfalls«, fuhr ich mit einem warnenden Blick Richtung der eitlen Schwarzfeder fort, »ist es uns gelungen, gemeinsam zu fliehen, indem wir den Zwergen unbemerkt Roten Fingerhut verabreicht haben. Allerdings hat das Gift König Laurin nicht töten können. Er hat es irgendwie geschafft, uns zu verfolgen und einen Zauber oder Fluch hinterherzuschicken. Es sah aus wie eine Art Feuerball«, versuchte ich zu beschreiben. »Er hat uns nicht voll erwischt, aber zumindest gestreift …«
    Während ich erzählte, wurden Spindlers Augen hinter seiner dicken Brille immer größer. Als ich geendet hatte, schüttelte er den Kopf. »Liebe Emma, ich glaube Ihnen ja Ihre Geschichte von der Zeit, die im unterirdischen Bergstollen langsamer vergangen ist. Vor mir sitzt ja ein junges Mädchen, also habe ich quasi den lebenden Beweis«, sagte er in seiner etwas komplizierten Art zu reden. »Aber ein Fluch … Verzeihen Sie mir, an dieser Stelle werde ich nun doch skeptisch. Haben Sie dafür irgendeinen Beweis?«
    Stumm deutete ich auf Jonathan. Genau wie ich brauchte mein alter Lehrer eine Weile, bis er verstand. Dann aber fiel der Groschen, und Spindler riss die Augen auf. »
Das
ist der junge Mann aus der Küche?«, fragte er. Langsam erhob er sich aus seinem Sessel und ging zu Jonathan hinüber, um ihn in Augenschein zu nehmen. Der schwarze Vogel blieb sitzen und erwiderte den Blick ruhig und sicher.
    »Ich kann es nicht glauben«, murmelte der alte Mann. »Sind Sie wirklich sicher? Ich meine«, setzte er hastig hinzu, weil er sah, dass ich Einspruch erheben wollte, »er unterscheidet sich nicht von einem ganz gewöhnlichen Raben!«
    Jonathan krakeelte protestierend, und ich beeilte mich zu versichern, er sei alles andere als ein gewöhnliches Tier. Der Rabe nickte ein paar Mal heftig mit dem Kopf. »Er scheint zu verstehen, was man sagt, aber dennoch …«, zweifelte Spindler. Jonathan drehte den Kopf und inspizierte kurz das Zimmer, bevor er auf Spindlers Bücherregal flog. Dort trippelte er prüfend an den Buchrücken entlang, bis er offenbar fündig wurde und begann, mit dem Schnabel an einem Buch zu zerren.
    »Jonathan«, rief ich, »lass das!« Ehe ich aber noch aufspringen und ihn verscheuchen konnte, fiel bereits

Weitere Kostenlose Bücher