Die gestohlene Zeit
ihr Herz zu backen. Sie sah hoch, und Interesse blitzte in ihren Augen auf.
»Was denn für welche?«, fragte sie schnell. Ich musste heimlich grinsen.
»Caro mochte meine Schokoladen-Krokant-Mischung immer am liebsten«, erinnerte ich mich.
»Klingt super. Ich meine …«, dämpfte Lilly gleich darauf, denn so schnell wollte sie sich nicht ködern lassen, »du kannst dich gerne in der Küche austoben. Falls sich der Inhalt unseres Kühlschranks nicht inzwischen in Penicillin verwandelt hat«, fügte sie noch leicht zerknirscht hinzu.
Eine gute Stunde später saßen wir einträchtig um den Couchtisch herum und knabberten das noch warme Gebäck. Wie zu erwarten, hatte meine Freundin Caro eine gut ausgestattete Vorratskammer, in der ich alles gefunden hatte, was ich fürs Backen brauchte.
»Das schmeckt super«, nuschelte Lilly mit vollen Backen, und ich tauschte mit Herrn Spindler ein Grinsen über ihren blonden Scheitel hinweg, der sich gerade erneut über den Teller mit den Keksen beugte. Schon hatte sie einen in der Hand, ihr vierter oder fünfter, schätzte ich. Dabei war Lilly ziemlich dünn, schien aber eine Menge vertragen zu können. Gerade als sie den ersten Bissen nehmen wollte, schoss etwas Dunkles vom Schrank herunter, und Lilly starrte verblüfft auf ihre leere Hand, in der sich gerade eben noch ein Keks befunden hatte.
»Sag mal, geht’s noch?«, rief sie dem Raben zu, der sich mit seiner Beute im Schnabel auf der Sofalehne niedergelassen hatte und nun Lilly mit schiefgelegtem Kopf beäugte. Sie drohte ihm scherzhaft mit dem Finger, und er gluckste.
»Möchtest du nicht heute Abend für uns kochen, Emma? Ich hätte Appetit auf Rabengulasch!«, flötete Lilly zuckersüß und schielte dabei zu Jonathan hinüber. Der ließ den Keks fallen und flatterte gespielt erschrocken auf, wobei er ein schrilles Kreischen ertönen ließ. Dann segelte er auf meinen Arm und lehnte hilfesuchend seinen Kopf an meine Schulter. Dabei ließ er Lilly nicht aus den Augen. Die konnte nun nicht mehr ernst bleiben und kicherte los. Krächzend stimmte Jonathan in ihr Gelächter ein. »Wahnsinn, der versteht ja tatsächlich, was man sagt«, rief sie bewundernd.
»Sag ich doch«, triumphierte ich.
»Aber wie …«, setzte sie an.
Das melodische Klingeln eines Telefons unterbrach uns. Lilly verdrehte die Augen, und sprang auf und rief über die Schulter: »Typisch Ma, auf dem Festnetz anzurufen. Sie kann Handys nicht leiden. Das ist so Achtziger!«
Sie griff nach einem flachen, schwarzen Rechteck, das so gar keine Ähnlichkeit mehr mit den Telefonen aus meiner Erinnerung hatte und meldete sich mit »Pronto«. Undeutliches Gemurmel wie das Summen eines Bienenschwarms drang an meine Ohren. Lilly grinste. »Na klar, Paps, alles in Ordnung. Logo bin ich brav«, sie kicherte. »Ich sitze zu Hause und … esse«, grinste sie frech. Jonathan war währenddessen näher gehüpft und musterte nun interessiert den schnurlosen Hörer, aus dem die Stimme kam. Lilly warf ihm ein Grinsen zu, dann verdrehte sie die Augen. »Ne, klar, gib mir ruhig Ma, damit ich ihr genau das Gleiche noch mal erzählen kann und sie hört, was für eine Mustertochter sie hat! Ja, ich warte so lange.«
Ich schnellte hoch. Caro würde ans Telefon kommen! Ich würde ihre Stimme hören! Ich hatte bereits zwei Schritte auf Lilly zu gemacht, als ich den sanften, aber bestimmten Druck von Spindlers Hand auf meinem Arm fühlte.
»Emilia«, sagte er verhalten. »Ich weiß, Sie würden nichts lieber tun, als mit Ihrer Freundin zu sprechen. Aber versetzen Sie sich doch mal in Carolines Lage! Für sie wäre es ein Schock, plötzlich Ihre Stimme zu hören. Und das auch noch im Urlaub, weit weg von zu Hause! Ich glaube, es wäre besser, wir würden mit der Nachricht, dass Sie am Leben sind, warten, bis Caroline wieder da ist. Meinen Sie nicht?«
Lilly, die Hand auf die Sprechmuschel gepresst, sah mich fragend an. Schweren Herzens nickte ich. Spindler hatte recht. Ich wollte Caro auf keinen Fall erschrecken oder ihr den Urlaub mit ihrem Mann vermiesen. Denn wenn sie wüsste, dass ich da wäre, würde sie natürlich sofort zurückkommen. Und ich hätte ihr eine Menge zu erklären. Unter anderem, wieso sie erwachsen geworden war und ich nicht.
»Hallo, Ma«, hörte ich Lilly da sagen. Sie drückte eine Taste am Telefon, und unvermittelt hallte Caros Stimme klar und deutlich durch den Lautsprecher. Man hätte meinen können, sie stünde im Zimmer.
»Hallo,
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