Die gestohlene Zeit
Gestalt«, schaltete sich der Angesprochene ein. »Ich war der Rabe, der dir das Gebäck gestohlen und den du auf Emmas Schulter gesehen hast.«
Lillys Blick flog von Jonathan zu mir, und dann prustete sie los. »Na klar, und Michael Jackson lebt«, gackerte sie. »Ihr wollt mich verarschen, oder?«
Ich starrte sie an. »Willst du damit sagen, Michael Jackson ist
tot
?«, rief ich entgeistert.
»Wer
ist
Michael Jackson?«, fragte Jonathan verwirrt, doch ich hatte nur Augen für Lilly, die nickte.
»Schon ein paar Jahre«, sagte sie. »Genau wie Whitney Houston. Beide haben irgendeine Überdosis Tabletten erwischt.«
Das haute mich nun doch um. »Falco?«, fragte ich vorsichtig nach Caros Jugendidol. Lillys Kopfschütteln war Antwort genug. »Und … David Bowie?«, kaum traute ich mich zu fragen.
»Der lebt!«, rief Lilly. Ich atmete auf. Dann fiel mein Blick auf Jonathan, der außer dem Handtuch nun auch noch eine kapitale Gänsehaut am Körper trug. Hastig zog ich ihn ins Haus. »Du erfrierst ja da draußen«, rief ich.
»Oh, ich möchte euch keinesfalls inkommodieren. Ein Falke und dieser Jackson sind schließlich wichtiger«, schlotterte er und versuchte, sein leises Zähneklappern zu unterdrücken.
»Es heißt ›Falco‹, und natürlich ist nichts wichtiger als die Tatsache, dass du wieder ein Mensch bist«, sagte ich. Am liebsten hätte ich Jonathan umarmt, aber da er nichts außer diesem winzigen Handtuch trug, traute ich mich nicht. Daher beschränkte ich mich darauf, schüchtern seine Hände zu ergreifen. Jetzt lächelte er, und eine Mischung aus Freude und wildem Triumph schoss in meinem Inneren hoch, wie die Sektfontäne aus einer Flasche, die man zu übermütig geschüttelt hat. Laurin hatte verloren – sein Fluch war unwirksam geworden.
»Moment mal, kann mir jetzt bitte einer erklären, was hier los ist?«, schaltete sich Lilly ein. Ich nickte seufzend. Aus dem Plan, sie ins Bett zu schicken, würde vorerst nichts werden.
Während ich Lilly über meine Begegnung mit Jonathan und Laurins Fluch aufklärte, hatte der sich auf Lillys Geheiß in die heiße Badewanne gesetzt, um sich aufzuwärmen. Sie hatte aus dem Schlafzimmer ihrer Eltern ein paar Sachen ihres Vaters für ihn geholt. Währenddessen hatte er staunend zugesehen, wie ich Wasser einließ.
»Man muss es nicht erst über dem Feuer erhitzen?«, hatte er sich gewundert und seine Hand andächtig unter das fließend warme Wasser gehalten. »Ich glaube wirklich, ich habe großes Glück gehabt, in solch eine famose Zeit zu gelangen«, hatte er befunden. »Allein das Licht, das auch nachts taghell brennt, ist ein Wunder!« In diesem Moment war Lilly mit einer Jeans und einem Pulli ihres Vaters dazugekommen, und wir hatten dezent das Badezimmer geräumt, um Jonathan in Ruhe seine Wannenpremiere genießen zu lassen.
Gerade beendete ich meinen Bericht mit der Schilderung von Jonathans plötzlicher Verwandlung in einen Raben, da hörten wir die Toilettenspülung rauschen und dann Jonathans gedämpften Ausruf. Gleich darauf rauschte es wieder. Und dann noch einmal. Lilly und ich sahen uns an.
»Hoffentlich ist ihm von der ganzen Verwandlungsarie nicht schlecht geworden«, sorgte sich Lilly. Da stand er schon unter der Tür. Er sah in Jeans und T-Shirt ziemlich cool aus, und ich musste mir einen anerkennenden Pfiff verkneifen.
»Bist du krank? Wir haben die Klospülung ziemlich oft gehört«, wollte Lilly besorgt wissen.
»Es ist ein Faszinosum«, sagte Jonathan begeistert. »Man drückt einen Knopf, und es entsteht ein Strudel wie in einem Fluss. Wirklich eine erstaunliche Erfindung!«
Lilly und ich sahen uns an und mussten lachen.
»Wie war das denn so, wenn man im 18 . Jahrhundert gelebt hat?«, bohrte Lilly nach. »Habt ihr überhaupt mal gebadet? Haben diese weißen Puderperücken nicht total gekratzt? Und wie war …«
»Verzeih mir, Lilly, wenn ich dich unterbreche. Ich erzähle dir gerne davon – ein andermal!«, entzog Jonathan sich den neugierigen Fragen. »Im Augenblick bin ich selbst noch zu überwältigt von der modernen Welt«, fügte er hinzu.
Lilly nickte seufzend. »Okeydokey, aber aufgeschoben ist nicht aufgehoben«, drohte sie.
Er nickte, wenn auch etwas erstaunt. »Okeydokey?«, echote er verständnislos.
Ich verbiss mir ein Grinsen. »Eins ist klar: Du musst als Mensch im dritten Jahrtausend noch sehr viel lernen«, sagte ich.
»Ich hoffe, du wirst da sein, um mich alles zu lehren, Emma«, antwortete er
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