Die gestohlene Zeit
Lilly-Schatz«, sagte Caro, und mir schossen Tränen in die Augen. Meine beste Freundin klang noch genau wie früher. Vielleicht war ihre Stimme ein klein bisschen dunkler geworden, aber sie zu hören war, als würden die letzten siebenundzwanzig Jahre schrumpfen, zurückgespult werden, wie eins dieser Maßbänder, die nach dem Herausziehen blitzschnell wieder zurückschnellen können.
»Ist bei dir alles okay?«, fragte Caro, und ich biss die Zähne zusammen, um nicht aufzuspringen und Lilly den Hörer aus der Hand zu reißen.
»Caro, ich bin’s, Emma! Ich vermisse dich so schrecklich!«, hätte ich am liebsten gerufen. Stattdessen setzte ich mich auf meine Hände, damit ich nicht in Versuchung geriet, nach dem Telefon zu greifen. Lilly beruhigte derweil in fröhlichem Ton ihre Mutter und versicherte ihr, alles wäre prima. »Ne, es ist nichts los, keine besonderen Vorkommnisse«, erklärte sie munter, wobei sie mir einen Seitenblick zuwarf und eine schuldbewusste Grimmasse schnitt.
»Dann bin ich ja beruhigt«, drang Caros Stimme zu mir. »Immerhin ist es das erste Mal, dass wir dich alleine zu Hause gelassen haben, und … na ja, ich mache mir einfach ein bisschen Sorgen.«
»Ma-ma, ich bin fünfzehn!«, sagte Lilly gedehnt im Ton einer würdevollen Jubilarin von mindestens neunzig Jahren. »In vier Monaten werde ich sechzehn, schon vergessen? Ich bin eine erwachsene, emanzipierte Frau. Na ja, zumindest – fast …« Ich vernahm Caros Lachen. »Jaja, schon gut! Ich bin und bleibe eben ein unverbesserliches Muttertier«, gab sie zu. Beim Klang ihres Lachens durchfuhr mich ein Erinnerungsschmerz, der schön und traurig zugleich war. Ich lächelte über Lilly, die sich mit vielen Luftküssen verabschiedete, die von Caro erwidert wurden, aber ich konnte nicht verhindern, dass mir eine Träne über die Wange rollte. Da landete etwas Federleichtes auf der Armlehne meines Sessels. Jonathan sah mich mit seinen klugen Rabenaugen an und knirschte aufmunternd. Ich erwiderte seinen Blick, und er trippelte zu meiner Schulter hoch und zupfte mit seinem Schnabel sanft an einer meiner Locken. Ich musste lächeln und fühlte mich ein kleines bisschen getröstet. Lilly hatte aufgelegt und kam zu uns herübergeschlendert. »Puh, das Theater durchzuhalten, war ganz schön anstrengend!«, seufzte sie und ließ sich aufs Sofa fallen.
Herr Spindler stand auf. Er wirkte etwas erschöpft und lächelte uns müde an.
»Meine Damen, ich hoffe, ihr verzeiht mir, aber ich würde nun gerne nach Hause fahren. Emilia, wollen Sie mich begleiten?«
»Aber … Sie kann doch hier schlafen«, rief Lilly rasch und fügte hinzu: »Na ja, wir haben ein Gästezimmer, das ist sogar aufgeräumt. Und … Ma wäre es sicher auch recht, wenn ich nicht die ganze Zeit alleine zu Hause rumhänge.«
»Also gut, wenn das so ist«, meinte ich gnädig, aber in Wirklichkeit freute ich mich über Lillys Angebot. Obwohl ich sie gerade erst kennengelernt hatte, mochte ich sie. Erinnerte sie mich doch nicht nur vom Aussehen an meine beste Freundin, sondern auch wegen ihres frechen Mundwerks. Und der alte Lehrer war sicher froh, nicht auch noch seine ehemalige Studentin samt einem Vogel über Nacht beherbergen zu müssen, sondern seine Ruhe zu haben. Daher zwinkerte ich Lilly zu und grinste. »Später koche ich Spaghetti. Dafür erzählst du mir, was sich seit den Achtzigerjahren so alles verändert hat …«
Die Nudeln dampften auf den Tellern, und mir rauchte der Kopf. Wie ein Expresszug war Lilly durch die vergangenen drei Jahrzehnte gerauscht und hatte mir mit Hilfe ihres Mini-Computers namens »Laptop« einen Schnellkurs in Sachen drittes Jahrtausend verpasst. Nun wusste ich endlich, was YouTube war, dass der Gebrauch eines Telefons ohne Schnur, das »Handy« genannt wurde, inzwischen so normal war wie Fahrradfahren und die Berliner Mauer kurz nach mir ebenfalls verschwunden war. Außerdem hatte ich einen Beinahe-Erstickungsanfall hinter mir, nachdem ich im Internet Fotos von Dieter Bohlen und Thomas Anders gesehen hatte, die inzwischen wohl total zerstritten waren und Modern Talking endgültig begraben hatten – »zum Glück«, wie Lilly grinsend sagte.
Rabe Jonathan, der anfangs noch genüsslich aus einem Extra-Schüsselchen eine lange Nudel nach der anderen geschlürft hatte, hatte nach kurzer Zeit vor lauter Zuhören sein Futter vergessen.
»Oh Mann, ich weiß nicht, ob ich das alles so schnell verdauen kann«, ächzte ich und meinte nicht
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