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Die gestohlene Zeit

Die gestohlene Zeit

Titel: Die gestohlene Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heike Eva Schmidt
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das Essen auf meinem Teller. Ich hatte mich durch mehrere Websites geklickt und das Gefühl, meine Augen wären inzwischen viereckig.
    »Ach, da gewöhnst du dich schon dran. Ich helfe dir gerne«, bot Lilly großmütig an.
    Ich konnte ihr nicht antworten, weil ich gähnen musste. Lilly schielte auf ihr Handy. »Oh, schon zehn Minuten vor elf«, sagte sie, »da haben wir uns ordentlich verquatscht!«
    »Wann musst du denn ins Bett?«, fragte ich streng. Immerhin war sie sechs Jahre jünger als ich.
    »Eine halbe Stunde nach dir«, grinste Lilly frech und pustete schwungvoll die Kerzen auf dem Tisch aus, die sie zur »Feier unseres Kennenlernens«, wie sie es nannte, angezündet hatte. Das Wachs spritzte über den Tisch, und die Dochte begannen, heftig zu qualmen. Ein stechender Rauchgeruch durchzog das Zimmer. Jonathan krächzte empört und flog zum Fenster, wo er durch Flügelschlagen seinen Wunsch deutlich machte, hinausgelassen zu werden. Ich tat ihm den Gefallen und riss den Fensterflügel auf. Mit einem strafenden Blick zu Lilly flatterte er in den leicht verwilderten Garten hinaus, der mit seinen knorrigen Obstbäumen und dem hohen Gras heimelig und verwunschen wirkte. Der Rabe ließ sich auf einer der Gartenliegen nieder, die unter den ausladenden Ästen eines Nussbaums standen.
    Frische, klare Nachtluft strömte ins Zimmer, und ich atmete tief durch. Derweil versuchte Lilly, durch heftiges Fächern mit der Tischdecke den stinkenden Kerzenrauch zu verteilen, und warf dabei mein Glas mit einem Rest Mineralwasser um.
    »Weißt du was? Wieso gehst du nicht schon mal schlafen, und ich räume hier etwas auf?«, versuchte ich die Chaos-Queen loszuwerden. Immerhin hörte ich eine Kirchturmuhr draußen nun elf Uhr schlagen.
    »Also erstens sind Sommerferien, und ich kann morgen pennen, so lange ich will, zweitens bist du nicht meine Mutter, und drittens …« Noch bevor sie ihr finales Argument loswerden konnte, passierten zwei Dinge gleichzeitig. Die Kirchturmuhr tat ihren letzten Schlag, und in das Echo des dunklen Bronzetons hinein ertönte ein lautes Klopfen an der Haustür. Lilly und ich blickten uns an.
    »Wer kommt denn um diese Zeit noch zu euch?«, fragte ich verwundert.
    »Eigentlich niemand. Vielleicht hat Herr Spindler was vergessen?«, vermutete Lilly und machte Anstalten, zur Tür zu gehen.
    »Halt – ich komme mit! Man weiß schließlich nie, wer vor der Tür steht«, kommandierte ich.
    »Okay, das große Sushimesser ist in der Küche. Mit einer geladenen Knarre kann ich leider nicht dienen, die hat mein Vater für die Mafia mit nach Italien genommen«, witzelte Lilly, während wir auf die Haustür zusteuerten, an die erneut heftig geklopft wurde.
    »Ist ja gut, Mann, was ist denn so dring…«, rief Lilly ungehalten und riss die Tür auf. Ihr blieb die letzte Silbe im Hals stecken, und auch mir verschlug es die Sprache. Vor uns stand Jonathan. Allerdings war er kein Rabe mehr, sondern sehr menschlich – und sehr nackt. Bis auf ein knappes Handtuch, das er offenbar draußen auf der Gartenliege gefunden und sich um die Hüften geschlungen hatte, trug er nichts am Leib. Sekundenlang sagte keiner von uns ein Wort. Lilly und ich starrten auf Jonathans Oberkörper, und mir schoss durch den Kopf, dass sich das Fechttraining am österreichischen Kaiserhof bei ihm wirklich ausgezahlt hatte. Seine Brust- und Bauchmuskeln hätten so manchen Filmstar vor Neid erblassen lassen. Dann aber gewann ich meine Stimme zurück, auch wenn sie eher dem Krächzen des Raben ähnelte, der er bis vor wenigen Minuten noch gewesen war.
    »Du?«, brachte ich schließlich heraus.
    »Dürfte ich vielleicht hereinkommen, die Nacht ist etwas kühl«, bat Jonathan höflich. Doch Lilly wich keinen Zentimeter zur Seite, sondern stemmte die Hände in die Hüften.
    »Hör mal, Meister«, sagte sie angriffslustig, »die Chippendale-Nummer läuft hier nicht, kapiert? Ich bin noch minderjährig!«
    Jonathan blieb keine Zeit, sich von seiner Überraschung zu erholen, denn schon wirbelte Lilly zu mir herum. »Jetzt weiß ich auch, wieso du mich ins Bett schicken wolltest! Ich verstehe ja, dass dreißig Jahre mit dem Anblick von potthässlichen Zwergen kein Vergnügen waren, aber musstest du deswegen gleich heimlich einen Stripper bestellen?«
    »Ich … was? Nein, das ist Jonathan …«, stotterte ich überrumpelt.
    »Verehrte Lilly, ich vermute, es wird dir jetzt befremdlich erscheinen, aber du kennst mich. Allerdings in anderer

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