Die gestohlene Zeit
König kannte den Weg blind. Führte er doch in seine ganz persönliche Schatzkammer, in der neben Gold und Silber einige andere nützliche Dinge lagen. Zaubergürtel und Tarnkappe hatten die Recken damals vernichten können, nicht aber eine andere Kostbarkeit, denn selbst wenn die Menschen sie zu Gesicht bekommen hätten, war sie zu unauffällig, um Aufmerksamkeit zu erregen.
Laurin bückte sich, und seine klauenartige Hand mit den immer noch vom Fingerhut verfärbten, gekrümmten Nägeln schloss sich um den kleinen, unscheinbar-schwarzen Klumpen. Er hob ihn vom Boden auf und ließ ihn auf seiner Handfläche mit Hilfe einiger gemurmelter Worte zum Leben erwachen. Nach kurzer Zeit schoben sich aus dem glänzenden Leib zwei Fühler und sechs Beine. Es war ein Skarabäus. Jedoch handelte es sich dabei um keinen gewöhnlichen Käfer, sondern um einen Späher. Er konnte alles finden, was sein Besitzer ihm auftrug. In alten Zeiten, da die Zwerge noch im Berg nach Silber und kostbaren Erzen schürften, hatte er Laurins Untertanen zu den reichsten Silberminen geführt, die tief verborgen im Gestein schlummerten.
Doch auch als Laurin zum ersten Mal sein Reich verlassen hatte, um Similde zu entführen, hatte der Skarabäus ihm gute Dienste geleistet. Mit Hilfe eines Linnentüchleins, das dem schönen Mädchen bei der Ausfahrt in den Bergen verlorengegangen war, hatte Laurin seinen sechsbeinige Späher auf sie angesetzt. Der Käfer musste nur einmal über das Tuch laufen, das den Duft von Simildes Haut trug, und schon kroch er zielstrebig über die pergamentene Landkarte, auf der die Orte mit den menschlichen Behausungen eingezeichnet waren, direkt auf das Schloss von Simildes Vater zu. Da hatte Laurin gewusst, wo er sich seine künftige Braut holen musste.
Nun war die Schönheit ein zweites Mal entflohen, doch der Skarabäus würde Laurin wieder zu Diensten sein. Diesmal hatte der Zwergenherrscher sogar eine feuergoldene Strähne von ihr, was die Suche noch einfacher gestalten würde. Zwar hatte er sich nach seiner schändlichen Niederlage gegen des Königs Recken geschworen, von nun an die Oberwelt auf ewig zu meiden, doch die Gier nach Similde war stärker.
Vorsichtig zog er die Haare aus der Tasche seines Gewands und band sie dem Käfer um den Leib, was mit seinen plumpen Finger kein Leichtes war, aber er gab nicht auf. Schließlich war das Werk vollendet, und Laurin griff zu dem zusammengerollten Pergament, das er schon ehedem benutzt hatte. Er breitete die Karte aus und setzte seinen Späher darauf. Es dauerte keine Sekunde, da lief das Tier los, während Laurin mit brennenden Augen seinen Weg verfolgte. Der Käfer eilte die schmale schwarze Linie entlang, die zum Fuß des Gebirges führte. Dort verharrte er, und Laurin wusste, wo er seine Suche beginnen musste.
Eigentlich hätte ihre Flucht bereits am Berg ihr Ende finden sollen. Laurin hatte Similde und seinem Koch, der mit ihr geflohen war, einen Fluch geschickt, der jedes Wesen erstarren ließ. Unfähig, sich zu rühren, standen alle, ob Mensch oder Tier, unter des Königs Bann, bis er sie wieder erlöste. Doch das Gift, das Similde ihm verabreicht hatte, schien seine Zauberkräfte für einen Moment geschwächt zu haben. Laurin hatte selbst gehört, wie dünn seine Stimme klang. Die magischen Worte, die er rufen wollte, waren wie ein Klumpen in seinem Mund gelegen, sie schienen sich zu verdrehen und ihm zu entgleiten. Mit hilflosem Zorn hatte er mitansehen müssen, wie der Fluch die beiden Menschlinge verfehlt und ihnen die Flucht ermöglicht hatte.
Nun würde der König erst recht alles daransetzen, das geflohene Mädchen in sein Felsenreich zurückzuholen.
Behutsam steckte Laurin den Skarabäus in seine Tasche, der sogleich Fühler und Beine einzog und wieder in eine Art Totenstarre verfiel. Doch der Herrscher wusste, wie schnell er wieder lebendig wurde, wenn er ihn benötigte. Mit seiner Hilfe würde Laurin seine Braut aufspüren, egal, wo sie war. Die rissigen, blutigen Lippen des Herrschers über die Zwerge verzogen sich zu einem wölfischen Grinsen.
»Bald ist die Zeit gekommen, schöne Similde. Und dann bist du auf ewig mein!«
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Kapitel 12
L aurins Zauber! Nun hatte er also mich getroffen. Eine gefühlte Ewigkeit lang starrte ich auf mein Spiegelbild. Aus dem Glas blickten mich verschwommen zwei erschrockene grüne Katzenaugen an. »Jonathan«, wollte ich rufen, aber alles, was ich hörte, war so etwas wie »Miau«. Und schlagartig begriff
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