Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die gestohlene Zeit

Die gestohlene Zeit

Titel: Die gestohlene Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heike Eva Schmidt
Vom Netzwerk:
ich. Der Fluch des Zwergenherrschers hatte bei Jonathan ein rotes Mal, ähnlich einer Feder, zurückgelassen, und er war zum Raben geworden. Bei mir waren es vier halbkreisförmige Sprenkel und darunter ein größerer Fleck – die Form einer Katzenpfote.
    Aber war Jonathan nur deswegen zurückverwandelt worden, weil ich nun an der Reihe war? Und würde auch ich irgendwann wieder meine menschliche Gestalt zurückgewinnen, oder hatte ich vielleicht weniger Glück und musste für immer eine Katze bleiben? Der Gedanke ließ unwillkürlich ein Schluchzen in meiner Kehle aufsteigen, das sich als kläglicher Jammerlaut aus meiner Katzenkehle Bahn brach.
    »Emma«, hörte ich da Jonathan sagen, und gleich darauf fühlte ich seine sanfte Hand über meinen Rücken streichen. Erst jetzt wurde mir das heftige Zittern bewusst, das meinen Körper schüttelte. Jonathan hob mich vorsichtig hoch und drückte mich beruhigend an seine Brust.
    »Keine Angst, ich bin bei dir«, murmelte er, und unwillkürlich fühlte ich mich ein wenig besser. »Bestimmt ist das nur vorübergehend, so wie es bei mir auch war, und schon morgen bist du wieder ein Mensch«, redete er mir gut zu.
    Ich wollte ihm gerne glauben, aber vorerst musste ich mich mit meinem neuen Dasein arrangieren. Mein Blick fiel auf meine Kleidung, die verstreut auf dem Boden lag – eine nutzlose Hülle, da mein Körper nun mit rot-weiß geschecktem Fell bedeckt war.
    Ich zappelte und versuchte, Jonathan gedanklich klarzumachen, er solle mich herunterlassen. Vorsichtig setzte er mich auf den Boden, und ich machte die ersten, zaghaften Schritte auf vier Pfoten. Obwohl es ein ungewohntes Gefühl war, auf einmal eher längs als senkrecht zu laufen, fühlte sich mein Körper doch erstaunlich geschmeidig an. Ich legte etwas an Tempo zu und flitzte schon nach kurzer Zeit durch das Zimmer. Immer sicherer fühlte ich mich und setzte probehalber zu einem Sprung auf die Sessellehne an. Meine Hinterläufe drückten sich wie von selbst kraftvoll vom Boden ab, und sekundenlang hatte ich das Gefühl zu schweben. Ich verspürte keine Angst und keinen Zweifel, mein Körper war perfekt ausbalanciert. Schon landete ich geschmeidig auf dem schmalen Rand des Polstermöbels. Wow, dachte ich, das ging ja wie geschmiert!
    Selbstgefällig drehte ich den Kopf zu Jonathan und bemerkte, wie viel schärfer ich sah. Das Zimmer lag im Dunkeln, trotzdem konnte ich Jonathan so deutlich erkennen, als stünde er im hellen Tageslicht. Wenn nicht die Angst und die Unsicherheit gewesen wären, ob ich je wieder meine menschliche Gestalt zurückerlangen würde, hätte ich mein Katzendasein durchaus genossen. Allein die Möglichkeit, blitzschnell auf Bäume zu klettern oder in Tiergestalt durch die Straßen zu streifen …
    Plötzlich schoss mir eine Idee durch den Kopf. Während Jonathan ein Rabe gewesen war, hatte er mir trotzdem seine Gefühle und Gedanken mitteilen können. Zwar nicht durch Worte, aber ich schien seine Empfindungen fühlen und seine Gedanken wie ein Foto vor mir sehen zu können. Vielleicht funktionierte das ja jetzt auch umgekehrt? Ich kniff die Augen zusammen und bemühte mich, Jonathan ein Bild zu übermitteln. Zuerst reagierte er nicht, also sprang ich vom Sessel und hakte auffordernd eine Kralle in sein jeansbekleidetes Bein. Jetzt sah er zu mir hinunter, und unsere Blicke trafen sich. Erst runzelte er die Stirn, dann aber wich der Anflug von Ärger über meine unsanfte Behandlung seines Schienbeins zunächst einem Ausdruck der Verblüffung und dann der Konzentration.
    »Ich sehe dich als Katze vor einem Haus stehen«, sagte er langsam. Ich nickte mit dem Kopf und miaute ermutigend.
    »Ein Mann kommt heraus und lässt die Haustür offen. Du schlüpfst hinein und blickst dich um …«, fuhr Jonathan konzentriert fort. Wieder nickte ich. »Dein ehemaliger Schüler!«, rief er in einem Anfall plötzlichen Begreifens. »Du willst dich in Katzengestalt bei ihm einschleichen und nach Laurins Ring suchen! So, wie ich es anfangs in Rabengestalt tun sollte!« Ich rieb meinen Kopf begeistert an Jonathans Bein. Zwar kam ich mir unsäglich albern dabei vor, aber es war eine gute Möglichkeit, ihm meine Anerkennung zu zeigen.
    »Nein«, bestimmte er und sah mich streng an. »Das ist viel zu gefährlich, Emma!«
    Mir blieb nichts anderes übrig, als ihn anzufauchen. »Wir haben keine andere Möglichkeit«, sollte das heißen.
    Nachdem er sich noch etwas geziert und ich mein Fauchen mit einem erneuten

Weitere Kostenlose Bücher