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Die gestohlene Zeit

Die gestohlene Zeit

Titel: Die gestohlene Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heike Eva Schmidt
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und sah mich mit einem zärtlichen Lächeln an. Das Blut schoss mir in die Wangen, und ich blickte verlegen zu Boden, weil mein Kopf heiß wurde und ich bestimmt aussah wie eine rote Verkehrsampel.
    »Ich glaube, ich bin jetzt doch sehr müde. Ich lasse euch mal allein«, schmunzelte Lilly und verdrückte sich hastig.
    Lächelnd blickte Jonathan ihr nach. »Eine nette junge Dame! Und so diskret«, sagte er. Dann setzte er sich neben mich. Weit genug weg, um mein lautes Herzklopfen nicht zu hören, aber trotzdem nah genug, damit ich die Wärme spüren konnte, die zwischen uns zu flirren schien wie ein Schwarm Glühwürmchen in einer warmen Sommervollmondnacht. Sekundenlang blickten wir uns einfach nur an. »Ich kann es immer noch nicht fassen! Du hast dich tatsächlich wieder zurückverwandelt«, sagte ich.
    »Nun, Laurins Fluch hat mich nur gestreift. Es scheint, ich bin noch einmal mit ein paar Stunden des Schreckens davongekommen«, atmete Jonathan auf.
    Damit hatte sich nicht nur der Fluch, sondern auch das Problem erledigt, Udo den Ring abzujagen, schoss mir durch den Kopf. »Weißt du was? Soll mein blöder Ex-Schüler doch mit dem Zwergenschmuck glücklich werden. Hauptsache, du bist erlöst«, stellte ich fest.
    »Es ist ein unbeschreibliches Gefühl, wieder ein Mensch zu sein«, grinste Jonathan schelmisch, und erneut bemerkte ich die Grübchen, die sich dabei in seinen Wangen bildeten. Plötzlich schien mein Hals viel trockener als sonst. »Ja, das ist … toll«, brachte ich nur heraus.
    Jonathan wurde ernst. »Ich bin darüber auch sehr glücklich«, sagte er und hielt meinen Blick fest.
    Diesmal sah ich nicht weg, sondern tauchte in das Blau seiner Augen wie in einen tiefen, dunklen See und ließ mich von einem Strudel erfassen und mitreißen, bis es nichts mehr gab außer meinem lauten Herzklopfen und seine Arme, die sich um mich legten.
    Bei seiner Berührung durchzuckte mich ein Gefühl, das wie ein Stromschlag durch meinen ganzen Körper lief. Doch es war nicht nur Aufregung, sondern auch eine Art Erkenntnis. Ähnlich der Lösung des Rätsels in Laurins Felsenküche, die mir nach Jonathans Erklärung plötzlich klargeworden war, verstand ich jetzt, dass ich mich längst in diesen Jungen verliebt hatte. Wann und warum, spielte keine Rolle mehr, denn das Herz fragt nicht, es schlägt einfach schnell und kompromisslos für diesen einen, besonderen Menschen. So wie meines für Jonathan.
    Schon fühlte ich seine Lippen, die erst federzart meine Wange streiften, ehe sie sich auf meinen Mund pressten. Und damit verschwanden auch alle restlichen Zweifel, die mich in meiner Internatszeit oft gequält hatten. Ich fragte mich nicht mehr, ob sich ein Mann überhaupt jemals richtig in mich verlieben könnte, ohne immer nur das Äußere zu sehen – die Antwort lag in Jonathans Kuss. Er wusste vielleicht nichts über das Jahr 2014 , dafür aber, wie man küsste.
    Mir war so schwindelig, als säße ich in einem Boot, das auf den Wellen schaukelte, aber gleichzeitig fühlte ich mich in seinen Armen sicher und geborgen. Wir küssten uns immer weiter, und obwohl die Zeit zu rasen schien, flossen die Sekunden dennoch nur langsam ineinander, und die Zeit schien stillzustehen wie in Laurins unterirdischem Felsenreich.
    Engumschlungen sanken wir auf den weichen Teppich. »Emma«, sagte Jonathan, und seine ganzen Gefühle lagen in dem dunklen Klang, mit dem er meinen Namen aussprach. Ich zog seinen Kopf zu mir herunter, und meine Finger gruben kleine, zärtliche Furchen in die weiche, zarte Haut seines Nackens. Er gab einen wohligen Laut von sich, und seine Lippen wanderten hinunter zu meinem Hals. Eine Gänsehaut überzog meine Arme, und ich drängte mich an ihn, um ihm noch näher zu sein.
    Wie durch einen Schleier hörte ich die Turmuhr Mitternacht schlagen.
    Der erste Ton war ein greller Schmerz in meinen Ohren. Jonathans Lippen schienen eine Spur flüssigen Feuers zu ziehen, jedenfalls brannte meine Haut plötzlich unerträglich, und ich schrie auf. Beim dritten Glockenschlag wurde mir die Luft aus dem Brustkorb gepresst, und meine Lunge schien bersten zu wollen. »Emma«, hörte ich Jonathan noch einmal sagen, diesmal klang seine Stimme jedoch nicht zärtlich, sondern angstvoll.
    Ich wollte ihm antworten, doch ich brachte keinen Ton heraus, sondern japste nur verzweifelt nach Luft. Die gerötete Stelle an meiner Schulter begann heftig zu schmerzen, als hätte jemand Säure darübergegossen. Immer noch schlug die

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