Die Gewandschneiderin (German Edition)
hervorquellende Augen.
„Hast du so weit vorn gestanden?“ , fragte er ein wenig neidisch. „Hast du den Mantel gesehen?“
Anna wiegelte ab. „Nicht genau, aber eine schöne Farbe. Es ist ein Purpur, oder?“
„Bei Gott, mein Kind, es ist ein Purpur. Der prächtigste Mantel, der mir je untergekommen ist.“
Anna geriet ins Schwärmen. „Allein das Futter hat vermutlich ein Vermögen gekostet. Und erst die Löwenstickereien! Wie viel Goldfaden wohl darinsteckt?“
Meister Spierl starrte sie an. „Du standest dicht genug, um die Stickereien zu erkennen?“
Anna nickte. „Eine r der schwarzen Wächter hat mich vorgelassen.“
„Mädchen, Mädchen, Mädchen, wenn ich es nicht besser wüsste ...“
Meister Spierl schüttelte den Kopf, brac hte aber den Satz nicht zu Ende. Anna verstand auch so. Sie schluckte. Zu viele Vergünstigungen brachten einer Frau schnell den Ruf ein, dass etwas nicht mit rechten Dingen zuging. Sie musste sich in Zukunft besser in Acht nehmen.
„Warum hat dieser Mann mich angesprochen?“ , fragte Anna und zeigte verstohlen auf de Vinea.
„Er wählt Leute aus, die während der Audienz dem Kaiser vorgestellt werden. Erst kommen die Fürsten, dann die Handwerker und schließlich noch Einzelne aus dem gemeinen Volk, die ein Anliegen haben.“
Meister Spierl zog ein feines Linnentuch aus dem Wams und rieb sich über die feuchte Stirn. „Das kann dauern, Kindchen, das kann dauern.“
Anna war froh über die Gnadenfrist, die ihr blieb. Sie hatte es nicht allzu eilig, dem Mann aus dem Wald und dem Kaiser gegenüberzutreten. Wochenlang hatte sie sich gewünscht, den Kaiser einmal zu sehen; doch nach allem, was inzwischen geschehen war, wäre sie mit einer Betrachtung aus der Ferne mehr als zufrieden gewesen.
Die Fürsten, Handwerker und anderen Bittsteller hatten eine lange Schlange gebildet. Meister Spierl hatte mit Hilfe des schwarzen Wächters den Platz unter den Wartenden gefunden, der ihm und Anna zustand. Anna seufzte leise. Die Schlange hinter ihnen war länger als vor ihnen, und der Kaiser nahm sich nur wenig Zeit für jeden Einzelnen. Bald würden sie so dicht am Thron stehen, dass Petrus de Vinea freie Sicht auf sie hatte.
„Können wir nicht einfach gehen?“ , flüsterte sie, doch der Gewandschneider schüttelte so entschieden den Kopf, dass die weißen Haarbüschel zitterten.
„Hast du den Verstand verloren?“ , zischte er. „Meinst du, ich habe mich halb tot nach Worms schleppen lassen, um meine Audienz beim Kaiser zu verpassen?“ Er schnaubte.
Anna senkte schweigend den Kopf und blickte nicht mehr auf. Nur wenn ihr Vordermann die Füße bewegte, trippelte sie in angemessenem Abstand hinterher. Und dann waren die Füße vor ihr verschwunden.
Sie stand ohne einen Schutz vor dem Kaiser und vor Petrus de Vinea.
„Schneidermeister Spierl aus Trier und seine Gehilfin, Anna Wille von Münster!“, rief eine laute Stimme. Anna regte sich nicht, bis Meister Spierl sie in die Seite knuffte. „Hinunter!“, zischte er kaum hörbar. Anna sank in einen tiefen Knicks, den Blick noch immer gesenkt.
„Der beste Schneider weit und breit “, fuhr Petrus de Vinea leise fort. „Er muss dich noch vermessen.“
Anna hörte die vertraute Anrede und zuckte zusammen. Der einzige Mensch bei Hof , den sie kennengelernt hatte, stand mit dem Kaiser auf Du und Du - und sie hatte nichts Besseres zu tun, als ihn zu verärgern.
Die Stimme des Kaisers war auch als Flüstern unverkennbar , männlich und Furcht einflößend. Anna betrachtete den Saum des Mantels - Perlen und Goldfäden bildeten wundervolle Muster.
„Gut, soll nachher zu mir kommen“ , raunte er.
„Es ist mir eine Freude“, sagte er laut.
Bevor Anna ihn aus der Nähe mustern konnte, war es schon vorbei. Spierl und sie traten aus der Reihe und machten Platz für den Nächsten in der Schlange. Anna blickte zurück. Der Kaiser wandte sich dem Bittsteller zu, doch der Mann zu seiner Rechten starrte ihr finster hinterher. Er hatte sie erkannt.
Friedrich der Zweite, Herrscher des Heiligen Römischen Reiches
Die Flure barsten schier vor Menschen. Jeder schien es eilig zu haben, irgendwohin zu gelangen, doch Anna setzte nur schwerfällig Fuß vor Fuß. Sie war so erschöpft wie lange nicht mehr. Meister Spierl erging es kaum anders; er stützte sich schwer auf seinen Gehstock, und die lange Nase stach scharf und gelblich weiß aus seinem Gesicht hervor wie bei einem Toten.
“Warte kurz, Kind!” Er hielt
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