Die Gewandschneiderin (German Edition)
Gefangenen brachten. Ich habe den Wurf vereitelt” , flüsterte Anna zurück.
“Hat er dich deshalb so weit nach vorn geholt?”
Bevor Anna antworten konnte, blieb der Wächter wie schon am Ankunftstag unvermittelt stehen und deutete auf eine Tür.
Sie wurde von zwei absonderlichen Wesen bewacht, die dem Wächter, der sie hergeführt hatte, in Gestalt und Farbe ähnelten. Kraftstrotzend, schwarz und glänzend, wirkten sie selbst mit den hohen Türen im Rücken überaus eindrucksvoll. Sie trugen Gewänder, die fast bis zum Boden reichten, so wie Frauengewänder. Die Beine waren nackt, und die bloßen Füße steckten in engen Schuhen, die einen irrwitzigen Bogen beschrieben und in einer Spitze endeten. Sicher, Anna hatte schon Schnabelschuhe gesehen, aber doch nicht solche wie diese. Haare und Nacken der Krieger bedeckten zarte Tücher in hellem Grün, die bis zur Hüfte hinabreichten, ähnlich den Schleiern, die verheiratete Frauen zu tragen hatten. Das wirkte lächerlich, aber Anna war sicher, dass keiner in der Nähe dieser Wächter auch nur zu kichern wagte. Den Kopf stolz erhoben, sicherte ihr fester Griff mit beiden Händen die goldbeschlagene Lanze, deren rote Kordeln und geschmiedete Ornamente nicht über die Tödlichkeit der scharfen Spitzen hinwegtäuschten. Die Männer hatten einen Gürtel um die Bauchschärpen geschlungen, in dem Dolch und Kurzschwert auf ihren Einsatz warteten. Der entschlossene Blick gestattete keinen Zweifel an ihrer Aufgabe: In diesen Raum gelangten nur willkommene Gäste.
Meister Spierl trat vor die Tür , und Anna stellte sich neben ihn. Einer der Wächter sah den Meister fragend an, der nickte.
Tock! Tock! Tock! Der linke Wächter stieß seinen Speer dreimal auf den Boden. Dann fassten die schwarzen Hünen je einen Türflügel am Öffner und zogen ihn zu sich heran. Der Weg war frei.
Zögernd betrat Meister Spierl den Raum, und Anna folgte ihm. Ein Blick, und die Knie wurden ihr weich. Welche Pracht! Alles, aber auch alles in dem hohen Raum mit Ausnahme des Kamins war mit Stoff verkleidet, verhangen, oder bezogen. Ein Mädchen, in feine, halb durchsichtige Schleier gehüllt, huschte kichernd so dicht an den schwarzen Hünen vorbei, dass Anna ihre Furchtlosigkeit bewunderte. Gern hätte sie gewusst, ob das Mädchen hübsch war, doch die feine Gaze bedeckte auch Gesicht und Haar. Wohlgeruch zog an Anna vorbei wie der Duft der Blüten an einem wunderschönen Sommertag, vermischt mit … Anna fiel kein Vergleich ein, aber sie schnupperte genießerisch, während ihre Blicke über die üppigen Wandteppiche, die weichen Felle am Boden und über unzählige Kissen schweiften. Der Kaiser war nicht zu sehen, also blieb sie mitten im Raum neben dem Meister stehen, der sich genau wie sie mit großen Augen umsah. Achteckige Tischchen, kunstfertig geschnitzt, waren beladen mit Früchten und Karaffen. Ein Ruhebett, sogar mit einer Lehne versehen, stand an einem geöffneten Fenster, vor dem rote und ungebleichte Vorhänge sacht im milden Sommerhauch wehten. Einzig der Anblick der Speerspitzen vor dem Fenster erinnerte daran, dass dies nicht das Himmelreich war, sondern dass irdische Aufmerksamkeit zum Schutz des Höchsten erforderlich war.
Jemand r äusperte sich, und die beiden Besucher fuhren herum.
“So , so, der Schneider und seine Gehilfin.”
Anna sank in einen tiefen Knicks. Der Meister verbeugte sich, leise ächzend, so tief es se ine geschundenen Gelenke zuließen.
“Gut, gut, steht auf, ich bitte euch !” Anna hob den Kopf, und was sie sah, verblüffte sie: Der Kaiser hatte die teuren Roben aus der Verhandlung abgelegt. Er trug lediglich ein gewickeltes Hemd und eine seltsame Hose, oben an den Schenkeln bauschig, unten an der Wade aber eng wie ein Strumpf. Die Füße, blass und voller Sommersprossen, steckten in Schuhen, die nur aus Sohle zu bestehen schienen und am Oberfuß gerade eben die Zehen bedeckten.
“Majestät …” Meister Spierl grüßte artig, während Anna schwieg, so beschäftigt war sie damit, am Kaiser hinauf- und hinunterzuschauen. Friedrich der Zweite folgte ihrem Blick und lachte.
“Wie I hr seht, edle Herrschaften, bin ich dringend darauf angewiesen, mein Hochzeitsgewand von einheimischen Schneidern herstellen zu lassen. Ich fürchte” – er zupfte an der pluderigen Hose –, “dass die Vorstellung meines Hofschneiders in Italien, was festliche Gewänder angeht, dem hiesigen Geschmack ungemein zuwiderläuft.”
Der Kaiser nahm einen Apfel aus
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