Die Gewandschneiderin (German Edition)
Raum für dich allein?“
„Das hat damit nichts zu tun. Sie haben Angst, ich könnte sie anstecken. Wegen der Augen, weißt du …“
Vor Schreck rückte Anna ein Stück zur Seite.
Marie lacht e bitter. „Da haben wir’s - du glaubst es auch.”
„Stimmt es denn?“
„Nein, ich bin von klein auf blind, und ich stecke niemanden an.“
Anna rückte wieder näher.
„Und was ist mit dir?“, fragte Marie.
„Was soll mit mir sein?“
„Bist du vom Himmel gefallen?“
„Nein, ich komme aus Jever. Mein Vater wurde … er ist … O Gott, ich glaube, er ist tot. Wie konnte er mich so im Stich lassen?“ Anna zog die Knie an den Körper. “Marie, was soll bloß aus mir werden?“ Sie schluchzte verzweifelt.
Und Marie, die noch so klein war, Marie, die Blinde, Marie, die den Tag über an einem Pflock angebunden war, strich Anna vorsichtig über die Schultern, den Hals und das Haar und tröstete sie wie ein von Gott gesandter Engel.
Der nächste Morgen traf Anna unvorbereitet. Sie war furchtbar müde und hatte Mühe, sich zurechtzufinden. Wo war sie?
Das schüttere Stroh neben ihr war leer. Die Erinnerung kroch in ihren Kopf wie eine Schlange. Vater war tot. Und Marie hatte sie getröstet. Wo war das Mädchen?
Anna stand auf und suchte im Zwielicht der Kammer nach ihrem Überkleid, das sie am Abend achtlos abgestreift hatte. Da lag es, neben den Packen. Heißer Zorn durchfuhr sie, als sie die geplünderten Bündel sah. Trotz der beruhigenden Schwere des Leibgurtes tastete sie noch einmal nach, ob wirklich alles an seinem Platz war. Evphemia war zwar ihre Tante, aber sie hatte nicht das Recht, ihr das Lehrgeld zu entwenden. Andererseits konnte Wulf ihr nicht helfen, und nach seinem Willen sollte sie mit seiner Schwester auskommen.
Anna seufzte und schlüpfte in die feuchten Lederschuhe. Notfalls musste sie ihre geheimen Reserven angreifen, wenn sie damit eine Auseinandersetzung mit der Tante vermied.
Sie stieß die Tür weit auf. Im Flur war alles ruhig. Sie hatte sich getäuscht. Nicht nur Maries Kammer roch modrig, sondern das ganze Haus. Das Zwielicht der Lampe hatte am Tag zuvor gnädig verdeckt, in welch furchtbarem Zustand sich das Haus befand. Schmutz und Unrat klebten an Boden und Wänden, Feuchte stand kniehoch und färbte das Holz der Wände dunkelgrün. Anna rümpfte die Nase und schüttelte sich. Das hätte es bei ihrem Vater nicht gegeben.
Kaum hatte sie die Wohnstube betreten, erstarrte sie und traute ihren Augen nicht. Das Kleinkind, das am Abend zuvor mit am Tisch gesessen hatte, flog in Hüfthöhe an ihr vorbei, prallte gegen die Wand, rutschte hinunter und blieb wimmernd liegen.
Anna stürzte zu dem Jungen, bückte sich und strich ihm das helle Haar aus der Stirn.
„Hast du dir wehgetan? Geht es dir gut?“, fragte sie besorgt.
„Gib dir keine Mühe, er sagt nie etwas, gleichgültig, was man mit ihm anstellt. Vielleicht hat die da …“ Der große Mann zu Annas Linken rülpste und deutete auf Marie, die in der Ecke saß und aus der Nase blutete. „Vielleicht hat sie ihn angesteckt. Nur dass er nicht blind, sondern blöd geworden ist …“
Der Hüne lachte rau und torkelte zur Tür. „Dass mir etwas Anständiges auf den Tisch kommt heute Abend! Sonst …“
Die Auß entür knarrte, dann war alles still.
Anna verstand nicht, was hier vor sich ging, aber zweierlei war ihr auf Anhieb klar: Der Widerling war ihr Onkel, und sie hasste ihn mit aller Inbrunst, zu der sie fähig war.
Behutsam hob sie den Kleinen auf und zog ihn auf den Schoß. Eine dicke Beule zierte seine Stirn, Tränen rollten ihm über die zarten Wangen.
„O mein Gott, was hat er dir angetan?“ Tröstend wiegte Anna das Kind in den Armen. Ihr Blick fiel auf Marie.
„Marie, komm her, was ist mit deiner Nase?“
„Nicht so schlimm, hat dieses Mal kaum wehgetan. Zum Glück hat er heute gute Laune.“
Trotz der Beteuerungen, dass es nicht allzu arg um sie stand, tastete Marie sich näher, befühlte den Kleinen, seufzte und lehnte sich an Annas Schulter. Mit einer Hand strich Anna über Maries Schultern, mit der anderen streichelte sie den Kleinen. Erst jetzt, im Licht, sah sie, wie hübsch das zierliche Mädchen war.
„Er hat ihn getreten“, stellte Marie fest.
„Woher weißt du das?“, fragte Anna.
„Es klatscht anders, wenn er schlägt, als wenn er tritt. Und Ivo ist der Einzige, der so weit fliegt, wenn er ihn zu fassen bekommt.“
Anna drückte Marie an sich. „Warum tut er so etwas?“,
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