Die Gewandschneiderin (German Edition)
wollte sie wissen.
„Er braucht keinen Grund. Erst dachte ich, ich hätte etwas falsch gemacht, aber er schlägt uns auch, wenn wir brav sind“, antwortete Marie.
„Gott wird ihn eines Tages dafür bestrafen“, erklärte Anna.
Marie verzog das Gesicht, und ein dünner Blutfaden rann ihr aus der Nase. „Anna, ich muss dir etwas sagen“, flüsterte sie.
„Was denn?“
Marie lauschte, ob sie allein waren. „Es gibt ihn nicht“, raunte sie.
„Wen gibt es nicht?“, fragte Anna.
„Gott. Ich habe ganz oft gebetet, damit er mich totmacht und mich zu sich holt, aber er tut es nicht. Also gibt es Gott nicht. Oder ich bin ihm einerlei. Schließlich ist es doch das Gleiche, ob es ihn nicht gibt oder ob er sich nicht um uns schert, stimmt´s?“
Anna wollte heftig widersprechen, beteuern, dass es einen Gott gab, der alles sah und alle richten würde, wenn die Zeit gekommen war. Aber dann fielen ihr der verkrümmte Leib des Vaters und Johanns erstauntes Gesicht ein, als er zu Boden gestürzt war. Und Ivos Beule sprach für sich …
„Ich weiß es nicht, Marie, ich weiß es wirklich nicht.“
„Anna?“
Die Kleine drückte sich noch dichter an Anna und strich Ivo über den Kopf.
„Hm?“
„Schön, dass du da bist. Von nun an trösten wir Ivo gemeinsam.“
So wird von nun an mein Leben verlaufen, dachte Anna, als sie abends im Bett lag. Noch immer war sie wütend auf ihren Vater. Sie hatte mit ihm fortgehen wollen, aber er hatte nicht auf sie gehört. Sie tastete nach dem Bündel und zog das Pergamentröllchen hervor. Hatte er ihr vielleicht noch einen anderen Zufluchtsort aufgeschrieben, falls er nicht mehr kam? Sie brauchte jemanden, der lesen konnte. An die Mönche im nahen Kloster mochte sie sich nicht wenden. Was, wenn die inzwischen in Gilberts Auftrag nach ihr suchten? Oder dachten, sie habe etwas mit Johanns Tod zu tun?
„Marie?“
„Was denn?“
Marie war immer wach, wenn Anna sie ansprach. Wann schlief das Kind eigentlich?
„Kennst du jemanden, der lesen kann … ich meine, außer den Mönchen?“
Marie lachte hell auf. „Nein.“
Anna schob das Pergament wieder in den Beutel und tastete nach dem Stoffstreifen. Sie musste den Stoff nicht sehen, um zu wissen, wie er aussah. Das hatte sie schon immer gekonnt, ihre Finger verrieten ihr beim Tasten, wie ein Stoff aussah und wie er fiel, wie breit die Falten sein mussten, damit er richtig zur Geltung kam. Auch den Glanz erfühlte sie, wenn auch nicht die Farben. Doch sie wusste, wie das Blau des Stoffes wirkte, und konnte es sich auch im Dunkeln vorstellen. Sie drehte sich von Marie weg, um für einen Augenblick allein zu sein mit dem letzten Andenken an ihre Mutter.
Und in diesem Moment gab sie sich selbst ein Versprechen:
Eines Tages würde sie aus Stoffen wie diesem Kleider schneidern. Kleider, die ihre Trägerin so schön machten, wie es ihre Mutter gewesen war.
„ Was willst du?“ Evphemia rührte nicht länger im Eintopf, sondern starrte Anna, die kniend mit Sand und Scheuerbürste die grünen Ränder an der Wand schrubbte, entgeistert an.
„Ich möchte Lehrmädchen in einer Gewandschneiderei werden. Vielleicht gibt es in Oldenburg einen, der …“
„Das schlag dir ganz schnell aus dem Kopf!“, blaffte die Tante.
„Aber ich …“
„Weißt du, was eine Lehre kostet?“, zeterte Evphemia.
„Aber du hast doch das Geld vom Vater …“, stammelte Anna.
Eine Weile blieb es still, und als Evphemia schließlich antwortete, klang ihre Stimme ungewohnt sanft. „Er hat es genommen. Tut mir leid.“
Anna war kaum überrascht, wusste sie doch, dass Maffrit am Ende stets seinen Willen bekam.
“Dann sparen wir eben, bis es reicht …“, versuchte sie es noch einmal.
„Sparen? Wovon? Du frisst mir doch die Haare vom Kopf und bist ansonsten faul und zu nichts nütze.“
Anna starrte auf die gesäuberte Wand und stellte sich vor, was sie schon alles geschrubbt hatte, seit sie hier war. Faul war sie ganz gewiss nicht. Es war ungerecht, so etwas zu sagen.
Evphemia war noch nicht fertig. „Ich habe eine Stelle für dich. Du hast immerhin ein Jahr nähen gelernt, du kannst morgen in der Färbergasse als Weißnäherin anfangen.“
„Das will ich aber nicht. Vater hat gesagt …“
Die Tante ließ den hölzernen Rührlöffel in die Suppe fallen. „Dein Vater ist nicht hier!“, kreischte sie. „Mir ist es gleich, was du willst. Herrgott, wie hat mein Bruder dich nur erzogen, dass du immer Widerworte gibst? Du fängst
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